Rede zur Zukunft der freiheitlichen Demokratie an der Universität Zürich am 24.10.2023



Vom „Ende der Geschichte“ schrieb Francis Fukuyama 1989 und dabei über den Triumph der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie. 30 Jahre später ist davon wenig geblieben. Seit Putins Überfall auf die Ukraine herrscht wieder Krieg mitten in Europa. Und jetzt noch der entsetzliche terroristische Überfall auf Israel und die Gefahr eines kriegerischen Flächenbrands im Nahen Osten mit Hamas und Hisbollah, womöglich gesteuert von den Mullahs in Teheran, vielleicht auch zur Ablenkung vom wachsenden Widerstand für deren Unterdrückungsregime im Iran, und vielleicht mit dem Nutznießer Putin und dem Verlierer Ukraine. Das alles hatten wir nach dem Ende des Kalten Kriegs und des Ost-West-Konflikts nicht mehr für denkbar gehalten. Zwar führte schon in den 90er Jahren der Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens zu kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan. Die erst am 3. Oktober 1990 vollständig souverän gewordene Bundesrepublik Deutschland musste mühsam lernen, dass die Solidarität des Atlantischen Verteidigungsbündnisses, die so bequem unsere Grundlage für Frieden und Freiheit gewesen war, jetzt auch von uns aktive Beiträge und nicht nur friedenspolitische Belehrungen verlangte. Und dass Putin mit dem Satz, der Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 sei die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen, die alte imperialistische Zielsetzung russischer Politik wieder aufgriff, wollten wir auch nicht erkennen. Wir hätten es schon bei dem brutalen Militäreinsatz in Tschetschenien sehen können und spätestens in Georgien 2004. Der polnische Präsident Kaczynski sagte damals vorher, „erst Georgien, dann die Ukraine, danach Moldawien und dann die Baltischen Staaten und dann Polen“ – aber wer wollte das damals in Westeuropa schon hören? Und jetzt nach dem Hamas Terror verstehen wir auch besser, dass die Israelis die Drohung aus dem Iran und Teil der asiatischen Welt, Israel radikal von der Landkarte zu entfernen, ernst nehmen.
Nach der Besetzung von Donbas und Krim 2014 wurden zwar Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt, aber der Bezug von Öl und Gas, insbesondere durch Nord Stream 1 und 2, wurde noch erhöht.

Dass wachsende Abhängigkeit auch Erpressbarkeit bedeutet, blendete man aus. Und obwohl die Vorbereitungen für den Einmarsch am 24.02.2022 unübersehbar und die Warnungen amerikanischer und britischer Nachrichtendienste eindeutig waren, hofften wir bis zuletzt mit Christian Morgenstern, das nicht sein kann, was nicht sein darf.

Seit der Zeitenwende, wie Bundeskanzler Scholz das genannt hat, besinnen wir uns wieder auf Max Webers Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik und darauf, dass Pazifismus als ethische Grundhaltung so wertvoll, wie für die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in dieser realen Welt ungeeignet ist. Ich zitiere gerne Wilhelm Tell, natürlich in den Worten von Friedrich Schiller „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. Oder den alten römischen Satz „Si vis pacem para bellum“.

Verteidigungsfähigkeit als Voraussetzung für Frieden und Sicherheit, war nicht nur, aber doch ganz besonders für uns Deutsche ein mühevoller Lernprozess, da wir mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Katastrophe von Weltkrieg und Auschwitz es zunehmend bequem fanden, uns darum erst gar nicht mehr kümmern zu müssen. Da hat die Schweiz, wie in vielen anderen Bereichen staatsbürgerlicher Gesinnung, uns viel voraus.

Und genau so schwer fällt die Einsicht, dass Putins Krieg sich in Wahrheit nicht gegen die Ukraine richtet, sondern gegen die Anziehungskraft freiheitlich-rechtsstaatlicher Demokratie.

Dass die Ukraine Russland bedrohte, das hat selbst Putin nicht behauptet. Bedrohlich für Russland wäre eine Ukraine, die als Teil des zusammenwachsenden Europas und des freien Westens politisch und wirtschaftlich prosperiert. Und dadurch eine für Russland gefährliche Anziehungskraft entwickeln könnte.

So wie einst die DDR ihre Bürger mit Mauer und Stacheldraht einsperren musste, damit sie nicht buchstäblich davonliefen. Wenn zum Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober jüngst wieder fast einmütig geschrieben wurde, dass sei alles viel zu überstürzt gewesen und man hätte das von Bonn aus der DDR nicht überstülpen dürfen, sondern erst einmal eine gemeinsame Verfassung entwickeln müssen, dann erklärt sich das alles nur aus völliger Unkenntnis dessen, wie es 1989/90 wirklich gewesen ist. Die ganz überwiegende Mehrheit der Deutschen in der DDR wollte nicht mehr warten, nachdem die Mauer gefallen war. Zehntausende übersiedelten täglich nach dem 9.11.1989 in die Bundesrepublik, und das überwältigende Ergebnis der freien Volkskammerwahl am 18.3.1990 belegte das – die SED-Führung hatte das übrigens immer gewusst und entsprechend nichts von Gorbatschows-Reformen gehalten.

Also richtet sich die Aggression in der Ukraine gegen unsere Werteordnung, und deshalb unterstützen wir die Ukraine aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Ob und wie lange wir das durchhalten – in Europa und in den eigentlich ganz unverzichtbaren Vereinigten Staaten -, das ist eine der offenen Fragen. Putin setzt wohl darauf, dass freiheitliche Demokratien mit den Mitteln moderner Informationstechnologie, besser Desinformationstechnologie, leichter manipulierbar und weniger resilient seien. Gewiss gibt es auch einen globalen Druck in Richtung Beendigung des Krieges. Der Ausfall von Getreide aus der Ukraine verschärft die Nahrungsmittelknappheit weltweit, und die Drohung mit atomaren Waffen, geschweige denn der Einsatz selbst, ist auch von China, Indien und anderen Mächten der einst sogenannten 3. Welt verurteilt worden.
Aber die Unterstützung in der Weltgemeinschaft und in den Vereinten Nationen ist, wie sich bei der letzten Vollversammlung gezeigt hat, auch nicht so überwiegend, wie wir es nach den ersten Abstimmungen uns gerne eingeredet haben.

Nicht nur die BRICS-Staaten samt ihrer Erweiterung zeigen, dass weite Teile Asiens, Afrikas und Lateinamerikas – und damit eine große Mehrheit der Weltbevölkerung – die Dominanz der durch die G7-Staaten repräsentierten westlichen Welt weder politisch noch wirtschaftlich oder kulturell und gesellschaftlich akzeptieren und deshalb die Schwächung der amerikanischen und (west-) europäischen Dominanz trotz geringer Sympathie für die verbrecherische Politik Putins eher begrüßen. So ist neben der Rückkehr des Krieges auch nach Europa die Veränderung globaler Macht- oder Einflussstrukturen genauso Teil der Zeitenwende.

Dabei wird umgekehrt immer klarer, dass die drängenden Menschheitsprobleme nach globalen Antworten verlangen, allen voran die nun wirklich nicht mehr bestreitbare Gefährdung der ökologischen Lebensgrundlagen, zunehmend aber auch die Fragilität von Frieden und Sicherheit, wie vor allem auch die durch Kriege, Terror, Hunger und Klimakatastrophe ausgelöste Migrationsströme belegen, oder die mangelnde Unterscheidbarkeit zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Gewaltausübung von 9/11 und dem Al-Qaida-Terrornetzwerk Osama Bin Ladens über das nicht enden wollende Drama in Afghanistan bis zu dem wachsenden Einfluss islamischer Terroristen von Boko Haram bis zum islamischen Staat in wachsenden Teilen Afrikas. Und jetzt eben die Gefahr nicht nur für die Existenz des Staates Israel, sondern eines Flächenbrandes im ganzen Nahen und Mittleren Osten. Man mag es sich gar nicht ausmalen, was das mit der immer stärkeren Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, neben bakteriologischen und chemischen vor allem auch nuklearen Waffen, zusammen bedeuten kann. Die unglaublichen Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie verstärken globale Interdependenzen, wirtschaftlich und politisch.
Die Dynamik der modernen Finanzmärkte wird dadurch ebenso getrieben, wie die ganz aktuellen Bedrohungen durch neue Formen des Cyberwars. Neue Entdeckungen werden irreversibel, wie in diesen Tagen der Film „Oppenheimer“ eindrucksvoll erzählt.

Einmal aus der Büchse der Pandora entwichen und nicht mehr zurückzuholen.
Für die Entwicklungen in der Gen- und Genommanipulation ist das auch nicht viel anders. Und wer Harari’s Evolutions-Geschichte im „HOMO DEUS“ oder der “Kurzen Geschichte der Menschheit“ gelesen hat, wird sich nicht wundern, dass Harari die Befreiung künstlicher Intelligenz von menschlicher Kontrolle als neuen Quantensprung in der Evolution und damit als Menschheitsbedrohung versteht.

Globale Strukturverschiebungen und globale Abhängigkeiten verschärfen zusammen den systemischen globalen Wettbewerb und viele Zweifel, ob unsere westlichen wertegegründeten Systeme – freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat, umfassender Schutz der Würde jedes Menschen, soziale Stabilität und – nicht nur ökologisch – generationengerechte Nachhaltigkeit – heute noch effizient genug sind, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können.

Wenn man die Effizienz und Geschwindigkeit betrachtet, mit der China Hunderte von Millionen Menschen aus bitterer Armut zu wachsendem Wohlstand gebracht oder die im Wortsinn atemberaubende Luftverschmutzung von Metropolen wie Peking oder Shanghai in einem Jahrzehnt beseitigt hat durch eine vollständige Elektrifizierung des individuellen Straßenverkehrs, kann einem – zumindest in unserem besonders überregulierten und schwerfälligen Deutschland – angst und bange werden.

Das passt zu der Erfahrung, wie schnell bei Photovoltaikelementen zur Stromerzeugung wie bei der Elektromobilität im Straßenverkehr China sich im deutschen Markt durchgesetzt hat oder deutsche Kraftfahrzeugproduzenten auf dem chinesischen Markt zur Innovation zwingt.

Also sind zentralistische, staatsmonopolistische Strukturen effizienter?
Ein neuerbauter chinesischer Flugplatz wird im Zweifel schon wieder grundlegend erneuert, bevor in Deutschland auch nur das Planungs- und Genehmigungsverfahren abgeschlossen ist. Der neue Hauptstadtflughafen Berlin Brandenburg BER lässt grüßen. Übrigens: der Hauptbahnhof in Stuttgart wird nach vier Jahrzehnten nun doch in absehbarer Zeit in Betrieb gehen, und der vierspurige Ausbau der Rheintaleisenbahnstrecke von Mannheim nach Basel wird auch Ende der 30er Jahre vielleicht abgeschlossen sein – allerdings muss der Gotthardtunnel, der ja einmal zeitgleich vereinbart wurde, inzwischen schon wieder grundlegend renoviert werden.

Wer sich – wie ich – für Sport interessiert, dem tut schon weh, wenn deutsche Athleten bei der Leichtathletikweltmeisterschaft nicht eine einzige Medaille gewinnen, und dass Frankreich gerade noch eine errungen hat, tröstet auch nicht wirklich. Und weil ich schon beim Sport bin, möchte ich die strukturellen Veränderungen in den internationalen Sportorganisationen nicht unerwähnt lassen, obwohl ich mir denken kann, dass das in der Schweiz vielleicht ein heikles Thema ist.

Auch hier zeigt sich jedenfalls, wie stark große Finanzvolumina disruptive Entwicklungen befördern. Das gilt eben nicht nur für den Einfluss arabischer Staaten auf den bezahlten Fußball, sondern auch für die mediale Vermarktung großer Sportevents. Tesla belegt das bei der Elektromobilität entsprechend, und innovative Existenzgründer von BioNTech bis zu KI-Start-Ups erleben das genauso, wenn amerikanische Großkonzerne mit um Zehnerpotenzen höheren Kapital Innovationen vermarkten und Start-Ups aufkaufen.

Also ist Marktbeherrschung nicht nur eine Frage von autoritären, zentralstaatlichen Staatsstrukturen, sondern auch von monopolistischer oder oligopolistischer Konzentration – Silicon Valley versus China Modell.

Das führt mich zur Interferenz von Wirtschafts- und Sozialsystem und freiheitlicher Demokratie. Die amerikanische Antwort sind checks und balances und Anti-Trust-Gesetzgebung, die deutsche, und zunehmend auch die europäische, ist die soziale Marktwirtschaft. Die chaotischen Verwerfungen im politischen System der USA haben angesichts der überragenden politischen wie wirtschaftlichen Führungsrolle Amerikas Auswirkungen auf globale Stabilität. Ihre Ursachen sind nicht nur mit den Exzessen eines Donald Trump zu erklären, sondern gründen schon von Anfang an auf vielfältige Spaltungen dieses Kontinents, die im Bürgerkrieg militärisch ausgetragen werden mussten, aber bis heute vielfältig nachwirken. Die Methode des Gerrymandering, also der Kartellaufteilung vieler Wahlbezirke auf sichere rote oder blaue im amerikanischen Mehrheitswahlrecht mit dem Prinzip „The Winner takes it all“, vertieft diese Spaltung genauso wie das System der Wahlkampf- und Kandidatenfinanzierung. Und solche Elemente tragen dann dazu bei, dass das repräsentative System in Vorwahlen und Wahlen nicht mehr zur Mitte hin integriert, sondern eher zur handlungsunfähigen Spaltung in Extreme.

In Deutschland wäre Adenauers konsequente Politik von Westintegration und europäischer Einigung, auch der Vorrang für die Stabilisierung freiheitlich-rechtsstaatlicher Demokratie gegenüber dem Wunsch nach schneller Vereinigung des geteilten Nationalstaates, ohne die erfolgreiche wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die mit dem Begriff Wirtschaftswunder beschrieben und mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden ist, wahrscheinlich auch nicht so resilient gegen alle Widerstände gewesen.

Diese soziale Marktwirtschaft beruht auf einer ausgewogenen Balance zwischen einer auf Markt und Wettbewerb gegründeten Wirtschaftsordnung und einem auf Chancengleichheit und sozialen Ausgleich zielenden Gesellschaftssystem. Der Nestor der katholischen Soziallehre in Deutschland Oswald von Nell-Breuning hat dieses System als ein dem Menschen besonders gemäßes bezeichnet, weil es den Einzelnen moralisch weder über- noch unterfordere. Er dürfe seinem Eigennutz folgen und müsse doch auch soziale Grenzen, Ausgleich und Nachhaltigkeit akzeptieren. Dass eine solche Artung einer zentralistischen Planwirtschaft weit überlegen ist, dafür haben wir im geteilten Deutschland über 40 Jahre geradezu einen realen Modellversuch erlebt: Die gleichen Menschen in gegensätzlichen Systemen und frappierend unterschiedliche Ergebnisse. Und auch heute sorgen sich viele, ob angesichts abnehmenden Vertrauens in unsere demokratischen Institutionen – Regierung, Parlamente und Parteien – die Stabilität nicht dramatisch gefährdet werden könnte, wenn zusätzlich zu allem eine längere Phase wirtschaftlicher Stagnation, oder gar Rezession hinzukäme. Jedenfalls waren auch beim Ende der DDR nach dem Mauerfall nicht nur die Attraktivität der demokratischen Freiheit, sondern auch die weit überlegenen wirtschaftlichen und sozialen Erfolge wesentlich mit ausschlaggebend. „Konsumterror“ nannte das mein Gesprächspartner in meinen vertraulichen Gesprächen als dafür zuständiger Minister im Kanzleramt in den 80er Jahren mit der Führung der DDR.

Jedenfalls liegt diese soziale Marktwirtschaft in der Mitte zwischen reiner kapitalistischer Marktwirtschaft einerseits und staatlichem Dirigismus unter sozialistischer Gleichmacherei andererseits. Maß und Mitte, wie das in den politischen Grundsatzdebatten heißt, und dafür steht neben den ökonomischen Theoretikern von der Ordnungspolitik bis zur sozialen Marktwirtschaft vor allem Ludwig Erhard, der übrigens schon 1965 mit seinem Appell zum Maß halten eher Spott als Zustimmung fand.

Heute sind viele, die sich in Wissenschaft und öffentlicher Debatte mit der Analyse der krisenhaften Zuspitzung befassen, einig, dass Übertreibungen in jede Richtung immer das eigentliche Problem seien. Zu dem ökologischen Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen ist das weitgehend unbestritten, obwohl es immer schwierig wird, wenn es um konkrete Schlussfolgerungen geht. Für die Pharmakologen ist die Waage Symbol, also Maß und Mitte zwischen Gift und Heilmittel, für Justitia übrigens auch. Wer mag da nicht gleich an Michael Kohlhaas denken? Von „fiat iustitia et pereat mundus“ ist es ja auch nicht weit zu unserem nur noch durch Satiriker und Kabarettisten zu erfassenden bürokratischen und juristischen Perfektionismus. Schon die alten Römer wussten „summum jus summa injuria“.

Menschlicher Fortschritt, technologische Innovation ist immer Segen und Fluch zugleich, seit Prometheus das Feuer zu den Menschen brachte. In dem Film „Oppenheimer“ wird das Dilemma der Kernenergie, das schon ihre Entdecker gequält hat, gerade wieder eindrücklich beschrieben. Und wer an die Sorgen der avantgardistischen Kommunikationsexperten denkt, dass die künstliche Intelligenz sich von menschlicher Kontrolle und Beherrschung ablösen könnte, der spürt auch da wieder das uralte Dilemma. Das gilt übrigens für Sorgen und Ängste auch, wie wir spätestens seit Webers Maschinenstürmer wissen oder auch seit den Prognosen im 18. Jahrhundert, dass London in absehbarer Zeit im Pferdemist ersticken werde, wenn die Zunahme der Pferde-Kutschen sich so fortsetze.

Ein ehemaliger Finanzminister grübelt noch immer darüber, wie man verhindern könnte, dass entfesselte globale Finanzmärkte völlig außer Kontrolle geraten. Wohin man auch schaut – Übertreibung bis zur Perversion in jede Richtung. „Nichts im Übermaß“, „Gnothi seauton“, steht seit rund zweieinhalbtausend Jahren am Apollotempel zu Delphi geschrieben. Orakel und Menetekel zugleich.

Im Freiburger Kreis, einer aus Anlass der Novemberprognome 1938 entstandenen oppositionellen Gesprächsrunde von ordoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern, Juristen, engagierten Christen beider Konfessionen suchte man aus der Erfahrung mit der Perversion der totalitären Ideologien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine dem Menschen gemäße wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung und entwickelte daraus die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft. Übrigens braucht jede freiheitliche politische Ordnung als Stabilitätsgrundlage auch Zugehörigkeit, Identität. Ohne die wird das Mehrheitsprinzip nicht akzeptiert. „One man, one vote“ ist als Grundlage einer gewaltfreien globalen Ordnung nicht einmal ein Traum, zumal man weiß, dass das Mehrheitsprinzip allein keine Grundlage für eine stabile Freiheitsordnung ist, schon weil es auf die Rechte Einzelner oder Minderheiten keine Rücksicht nimmt. Deshalb ist das Föderale, das subsidiäre Bauprinzip für eine freiheitliche Ordnung dem zentralistischen Ansatz überlegen. Aber auch das kann man durch Übertreibung zerstören, wie der Zustand unserer bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland wie unserer kommunalen Selbstverwaltung derzeit eindringlich beweist.

Und das führt schon zum nächsten Dilemma menschlicher Ordnung. Schutz von Leben und Menschenwürde für jeden Flüchtling und gleichzeitig auch Bewahrung von Aufnahmebereitschaft, Toleranz und Bekämpfung von ausländerfeindlichen Ressentiments – damit plagt sich deutsche und europäische Asyl- und Migrationspolitik seit fast einem halben Jahrhundert noch immer ohne wirklich überzeugendes Ergebnis herum.

„Begreifst du aber wie unendlich leichter andächtig Schwärmen als gut Handeln ist“, sagte Lessings Nathan zu seiner Tochter. Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik, Max Weber lässt grüßen, und in Zeiten von Putins Überfall auf die Ukraine muss selbst die EKD ihre Position zum Pazifismus neu überdenken.

Wenn die Stärke der sozialen Marktwirtschaft darauf gründet, dass sie der Eigenart des Menschen gerecht wird, bleibt zum einen die Frage, wie sich das im globalen Wettbewerb behaupten kann. Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler meinte einst, dann müssen wir eben die soziale Marktwirtschaft weltweit einführen, konnte aber die Frage nach dem „wie“ natürlich auch nicht überzeugend beantworten.

Demokratie, nationale Souveränität und globale ökonomische Integration – freier Wettbewerb und offene Grenzen -, das Rodrik-Trilemma besagt, dass man nur zwei der drei miteinander vereinbaren kann. Da die Sehnsucht nach der Geborgenheit in nationalem Zusammenhalt in Zeiten weltpolitischer Instabilität offenbar wächst, stößt die globale ökonomische Integration an zunehmend engere Grenzen.

Und zum anderen will bedacht sein, wie Menschen und menschliche Gesellschaften sich entwickeln. „Schlaraffenland abgebrannt“ lautet der Titel des eben erschienenen Buches von Michel Friedman, in dem er die von ihm gesehene, gesellschaftliche Angst vor der Zukunft beschreibt. Man muss seine Tonart nicht teilen. Aber der Befund, dass es unserer Nachkriegsgeneration zu lange zu gut ging, so dass wir im internationalen Vergleich zurückfallen, für den spricht viel. Die jüngsten Leichtathletikweltmeisterschaften waren wohl mehr als nur ein Symptom. Und wirtschaftlich sind sich inzwischen auch nahezu alle einig, dass wir wieder auf dem Weg zum „kranken Mann“ nicht nur in Europa, sondern zunehmend auch in der Weltwirtschaft sind. Und dazu passt eben dann auch der Leistungsstand unserer Schüler. Neben allen unbestreitbaren sozialen und sonstigen Ursachen, die in vergleichbaren Ländern gewiss auch nicht völlig anders gegeben sind, ist schon bedrückend, dass in fast allen Stufen unseres Bildungssystems das kulturelle Basiswissen – Lesen, Schreiben, Rechnen, – genau wie das Leistungsniveau in den MINT-Fächern eher mäßig mit abnehmender Tendenz ist. Stattdessen gewinnen geringere Wochen- und Lebensarbeitszeit immer mehr Attraktivität. Und mit der Höhe unserer öffentlichen Sozialbudgets sinken Leistungsfähigkeit der Systeme wie Zufriedenheit der Leistungsempfänger fast im gleichen Tempo. Verkehrte Welt?!
Michael Sandel erzählt in seinem „Unbehagen in der Demokratie“ nicht nur die immerwährende Auseinandersetzung in der amerikanischen Verfassungsgeschichte zwischen liberaler und republikanischer Freiheit, also der Freiheit, möglichst viel für sich selbst entscheiden zu können oder der Freiheit an gemeinsamen Entscheidungen einen möglichst großen Anteil zu haben.
Und an dieser Erzählung hat mich besonders beeindruckt, wie sehr schon für die amerikanischen Gründungsväter und seitdem immer wieder die Inhalte von Bildung und Erziehung gerade auch in dieser Debatte wichtig waren, weil für den Zustand jeder Generation eben die vorangegangenen auch Verantwortung tragen. Es wird Zeit, dass wir Älteren heute auch darüber nachdenken.

„Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen“ sagt der Volksmund. Ich habe gelegentlich spekuliert, wie lange es dauern würde, bis uns im sogenannten Schlaraffenland die sprichwörtlich gebratenen Tauben zum Hals heraushängen würden. Knappheit nur bestimmt den Wert, Überfluss zerstört. Grundlage jeder Ökonomie von Angebot und Nachfrage.

Also ohne Grenzen und Regeln keine Freiheit. Ich habe in meinem Buch „Grenzerfahrungen – was wir aus Krisen lernen können“ versucht dies auszuleuchten. Von Hans Maier, dem großen alemannischen Politikwissenschaftler und bayerischen Kultusminister erinnere ich einen Beitrag in einer bildungspolitischen Bundestagsdebatte, dass man den Gänsen den Brotkorb höher hängen müsse, damit sie lernten die Hälse zu strecken. Erziehung heißt eben auch Fördern und Fordern.

Und damit sind wir auch bei der Finanzpolitik. Weil Geld, Währung am Ende materialisiertes, geronnenes Vertrauen ist, bleibt Geldwertstabilität kein Fetisch, sondern Grundlage einer leistungsfähigen Wirtschaftsordnung. Und deshalb sind Schuldenbremse oder schwarze Null nicht Ausdruck mangelnder Innovations- oder Gestaltungskraft, sondern im Gegenteil Grundlage für Nachhaltigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. „5% Inflation wären ihm lieber als 5% Arbeitslosigkeit“ sagte der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt im Wahlkampf 1972. Da hat er nicht Recht behalten, weil eben die mangelnde Geldstabilität alsbald zu nachlassender Wirtschaftskraft und damit zu wachsender Arbeitslosigkeit führte.

Ich habe jetzt viel über unsere deutschen Probleme gesprochen. Aber darauf beziehen sich eben meine Erfahrungen und Einsichten; aber aus manchem lassen sich auch verallgemeinernde Schlussfolgerungen ziehen.

Die erste ist vielleicht – und damit nähere ich mich der Abteilung Hoffnung -, dass wir immer die jeweils aktuelle Krise für die schwerste halten und dabei übersehen, dass früher keineswegs alles besser gewesen ist. Grund zur Zuversicht besteht immer. Der amerikanische Botschafter in Bonn zur Zeit von Mauerfall und Wiedervereinigung, Vernon Walters, erzählte die Geschichte, wie er als Begleiter eines amerikanischen Generals 1945 durch eine der zerstörten Ruhrgebietsstädte fuhr und dieser ihn auf eine Blechdose mit Schnittblumen in der Fensterhöhle einer Ruine mit der Bemerkung hinwies „Dieses Volk wird nicht untergehen. Wer in einer solchen Ruinenlandschaft Blumen in eine Blechdose stellt, glaubt an die Zukunft“. Da sind wir schnell bei Karl Popper und seiner Lehre von der offenen Gesellschaft, die im Gegensatz zur totalitären Staatsform Fehler und Irrtümer korrigieren könne. Trial an Error. Dazu passt, dass in der chinesischen Sprache das Schriftzeichen für Chance und Krise identisch ist. Ein Problem unserer Wohlstandsgesellschaft ist, dass wir eigentlich gegen Veränderungen sind. Solange es uns geht, sollte alles am liebsten so bleiben, wie es ist. Weswegen das Wort „Reform“ von Politikberatern für Wahlprogramme kaum noch empfohlen wird.

Also schaffen Krisen und Krisenbewusstsein Veränderungsbereitschaft. Das kann man selbst in Deutschlands komplizierter Ampel-Koalition beobachten. Dabei will ich, als Angehöriger der Opposition, doch zunächst auch um Verständnis werben, für diese vom Bundestagswahlergebnis 2021 als mit dem inzwischen in Deutschland verpönten Wort „Alternativlos“ erzwungene Koalition von Parteien mit so unterschiedlichen Erwartungshorizonten ihrer Anhänger und Mitglieder.

Und dass sich die jetzt – bei allem Zögern und Streiten – auf massive Waffenlieferung an die Ukraine durchgerungen hat und langsam auch zu einer eher realistischen Sicht der Migrations- und Integrationsproblematik, das zeigt eben doch, dass Problemdruck auch Veränderungen erzwingt.

Natürlich ist das insbesondere für die Basis der Grünen, die einst ja als eher schwärmerische (siehe Nathan) Bewegung entstanden ist, eine gewaltige Herausforderung. Ich pflege zu sagen, Regieren ist ein Rendezvous mit der Realität. Aber irgendwie funktioniert es doch.

In der Schweiz glaube ich – mit aller Zurückhaltung – eine ähnliche Entwicklung zu beobachten, insbesondere dass die Vorstellung von der immerwährenden Neutralität angesichts globaler Herausforderungen kaum noch ins 21. Jahrhundert passt.

Im Rest Europas hoffe ich auf ähnliche Entwicklungen. Zum einen hat nicht nur der französische Präsident Emmanuel Macron erkannt, dass die Europäische Union Verantwortung und Stabilitätsinteresse für ganz Europa, also einschließlich des westlichen Balkans hat. Das klang vor kurzem bei Frankreich Widerstand im Europäischen Rat gegen eine Beitrittsperspektive für den westlichen Balkan noch anders. Dazu muss ein handlungsfähiger Kern Führungsverantwortung übernehmen. Das war schon vor fast 31 Jahren der damals insbesondere in Frankreich missverstandene Grundgedanke des sogenannten Schäuble-Lamers-Papiers: Unterschiedliche Stufen von Integration bei Führung durch einen stärker integrierten, aber für andere immer offenen Kern. So muss heute – zumal angesichts der ungewissen innenpolitischen Entwicklung in den USA – Europa stärkere verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit entwickeln, wobei ich insoweit Frankreich, Polen und Deutschland als Führungskern sehe, Polen mit der einzigen größeren und einsatzbereiten konventionellen Armee, Frankreich mit seinen nuklearen Fähigkeiten, deren Schutzgebiet ganz Europa sein sollte.
Das müsste dann insbesondere von Deutschland, mit dem immer noch größten finanziellen und wirtschaftlichen Potential wesentlich mitfinanziert werden, ohne realistischerweise an der nationalen Entscheidungsgewalt Frankreichs etwas zu ändern. Mit der 2-Schlüssel-Lösung für die in Deutschland stationierten amerikanischen Nuklear-Potentiale gibt es sogar eine Art Vorbild dafür.

Und weil ich so viel Kritik und Skepsis gegenüber innenpolitischen Entwicklungen in Polen höre, rate ich uns im Westen dringend, unseren seit dem Ende des Ost-West-Konflikts neuen Partnern im Osten nicht belehrend und überheblich gegenüberzutreten, sondern auf gleicher Augenhöhe. Das gilt für die sogenannten neuen Länder in Deutschland und das gilt mutatis mutandis für die neuen Partner in Europa. Wieso sollten gerade wir Deutschen den Ungarn, oder den Polen Freiheit und Demokratie lehren?

Gemessen an den Herausforderungen der Globalisierung sind das alles lösbare Probleme. Und ganz gewiss wird ein handlungsfähiges Europa auch eher einen stabilisierenden Einfluss auf die Vereinigten Staaten von Amerika ausüben, schon weil wir dann als Partner relevanter sind. Und Partner werden die USA brauchen in den sich verschiebenden globalen Problem- und Machtstrukturen. Die werden übrigens auch nicht so einfach zu chinesischer und schon gar nicht russischer Dominanz führen. Bei Russland, das entgegen fast allen Erwartungen kaum in der Lage ist, die Ukraine zu besiegen – das erinnert schon sehr an Stalins Blamage im finnischen Winterkrieg -, das sich beim nordkoreanischen Schurkenstaat um Waffen und Munition bemühen muss, braucht es kaum einer Begründung. Und bei China zerbröseln nicht nur die Träume einer neuen Seidenstraße, sondern die BRICS-Staaten – nicht nur, wenngleich besonders Indien haben hinreichend klar gemacht -dass sie westliche Dominanz nicht durch chinesische ersetzen wollen.

Wahrscheinlich weiß das auch China selbst – oder wie sollte man sonst erklären, dass Englisch für chinesische Abiturienten Pflichtfach ist und dass die nach Xi Jinping folgende Führungsgeneration der KP Chinas ihre Kinder fast ausnahmslos im Westen, in den USA, Kanada oder Europa studieren lässt?

Und warum sollte die Menschheit, die auf dem Weg ist, das Weltall zu erobern, nicht auch in der Lage sein, den durch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen drohenden Weltuntergang zumindest hinauszuzögern, wenn doch jetzt neben Europa auch die USA und China mit der Bekämpfung des Klimawandels zumindest partiell ernst machen. Und das Brasilien von Präsident Lula da Silva mit dem Aufhalten der Zerstörung der Amazonas-Regenwälder auch?

Trial and Error. Die amerikanische Anti-Trust-Politik gegenüber der Dominanz von Silicon Valley lässt hoffen. Und bei China deute ich – wie viele andere – die Rückkehr Xi Jinpings zu Maos Herrschaftsanspruch auf Lebenszeit eher als Zeichen der Schwäche, wie auch die für China ganz untypische Ungeduld gegenüber Taiwan.

Und damit zum letzten und für mich entscheidenden Punkt für Zuversicht, was die Zukunft der freiheitlichen Demokratie anbelangt. Während wir selbst an dieser Zukunft zweifeln und auch tatsächlich überall in der westlichen Welt – in Amerika, wie in Europa – für zunehmende Schwäche der demokratisch-rechtsstaatlichen Strukturen vieles spricht, erfreuen sich gleichzeitig bei all den Menschen, die nicht in solcher Ordnung leben, diese Werte und Institutionen einer ungebrochenen, ja wachsenden Anziehungskraft. Der arabische Frühling war dafür Beweis, und selbst wenn er erst einmal gescheitert scheint, wird das nicht von Dauer sein. Im Iran nicht, in der arabischen Welt nicht und in der Türkei schon gar nicht. Jedenfalls fürchten die autoritären Machthaber genau diese Anziehungskraft, Putin in der Ukraine, Xi Jinping in Hongkong und Taiwan und Erdogan auf dem Taksim-Platz.

Also, immer wieder: Wir schätzen weniger, was wir selbst selbstverständlich zu besitzen glauben. Und wenn es gefährdet erscheint, wächst die Achtung wieder.

Auch die Zeitenwende 2. Teil, die nach dem Terrorüberfall auf Israel entstandene Gefahr eines kriegerischen Flächenbrandes über den Nahen Osten hinaus, ändert an dieser Zuversicht grundsätzlich nichts. Und wenn wir, zumal angesichts der Turbulenzen in der amerikanischen Innenpolitik, noch nicht so genau wissen wie, die Verschiebung globaler Einflussstrukturen wird auch hier auch neue Lösungen bringen. Das deuten schon Stellungnahmen und Vermittlungsangebote aus der arabischen Welt, aus China oder der Türkei an. Vorhersagen sind laut Mark Twain insbesondere für die Zukunft schwierig – die Hoffnung stirbt zuletzt. Und so wollen wir hoffen, dass die Menschheit auch aus der von Christopher Clark in seinen „Schlafwandlern“ beschriebenen Erfahrungen gelernt hat.

Die Demokratie sei stark, sagte Obama in seiner Abschiedsrede als Präsident der Vereinigten Staaten, solange sich die Menschen für sie engagierten. Ich zitiere gerne unseren deutschen Meister Goethe „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“.

Also, die Zukunft der freiheitlichen Demokratie liegt in unseren eigenen Händen.