Rede anlässlich der Feierlichkeiten des Evangelischen Kirchenkreises Trier zum 75-jährigen Bestehen des Landes Rheinland-Pfalz am 27. Juni 2023 in Trier



– Es gilt das gesprochene Wort –

Ist mit der Kirche noch Staat zu machen?

Die Konstantin-Basilika ist ein guter Ort, um über das Verhältnis von Kirche und Staat nachzudenken. Oder auch über die Wechselbezüglichkeit von Religion und Politik, was ein wichtiger Teil der Geschichte der Menschheit ist, so weit wir sie zu kennen glauben. Religion und Politik sind in ganz unterschiedlichen Ausprägungen immer Grundlage und Rahmen menschlichen Miteinanders. Sie gründen Ordnung und Hierarchie, und sie werden zu Legitimierung von Macht gebraucht. Das kennen wir in allen Kulturen und Gesellschaften.

Die großen Freiheitsrevolutionen Ende des 18. Jahrhunderts, die amerikanische Menschrechtserklärung und die Französische Revolution, haben das geschaffen, was wir gerne unsere freiheitlichen Werte nennen. Freiheit, Gleichheit, Herrschaft des Rechts, sozialer Zusammenhalt – Brüderlichkeit, Fraternité, wie die Franzosen so schön formulieren, – und Schutz der Würde jedes Menschen. Für unser Thema heißt das nicht nur Religionsfreiheit, sondern eben auch weltanschauliche Neutralität des Staates, oder gerade für uns Protestanten Trennung von Diesseitigem (Politik) und Jenseitigem (Religion).

Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung im demokratischen Europa gibt es auch da Unterschiede. Wir haben das etwa in der europäischen Debatte über eine der Präambel unseres Grundgesetzes entsprechende Formulierung „In Verantwortung vor Gott und den Menschen“ erlebt. Das hat mit den unterschiedlichen nationalen Geschichten zu tun hat. Unser Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland – verfassungsrechtlich übrigens vom Grundgesetz in den Formulierungen der Weimarer Verfassung übernommen – hat viel mit unserer Geschichte vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation über die Reformation und den Augsburger Religionsfrieden bis zu dem von Napoleon im Reichsdeputationshauptschluss 1803 geschaffenen Ende der Kleinstaaterei – in Trier das Ende des bischöflichen Kurfürstentums – zu tun.

Weltanschauliche Neutralität – von staatlicher Verantwortung für kirchliche Bauwerke bis zu Kirchensteuern – und umgekehrt bedeutsame Leistungen der Kirchen für unser Gemeinwesen insbesondere im gesamten Bereich von Betreuung, Bildung, Erziehung und Pflege – von Kindergärten über Schulen bis zu Krankenhäusern und Pflegeheimen.

Weil eine politische Ordnung der Freiheit auf Elemente der Zusammengehörigkeit angewiesen ist, braucht es eine Grundlage für Zusammengehörigkeit – lokale wie regionale oder nationale. Sonst wird das Mehrheitsprinzip schnell durch das Recht des Stärkeren ersetzt. Eines der Grundprobleme in unserer global so interdependent gewordenen Welt. Und dazu gehören gemeinsame Überzeugungen, gewachsen aus Kultur und Geschichte, Tradition. In unserer politischen Debatte zu Werten geronnen, fast überall auf der Welt gewachsen aus religiöser Erfahrung. Unverzichtbar für eine halbwegs stabile Freiheitsordnung – so wie Böckenförde das in seinem berühmten Satz: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ ausgedrückt hat. Später hat selbst Habermas das aus der Sicht eines – wie er sagte – religiös Unmusikalischen übernommen.

Wie also sollte man ohne Religion Staat machen?
Hoffentlich glaubt niemand mit künstlicher Intelligenz, denn das würde ja wohl trotz all der fantastischen Entwicklung in der modernen Datenverarbeitung, denen ich in meinem Alter kaum noch folgen kann – zum Ende der Menschenwürde führen, die doch auf der Einzigartigkeit des Menschen – ob in der Schöpfung oder in den naturwissenschaftlich begründeten Entwicklungstheorien – gründet.

Und Religion ohne Kirche, das führt auch in die Irre. Für sich allein kann kein Mensch leben. Er kommt schon nicht allein auf die Welt. Und dieses auf Gemeinschaft angewiesen sein gilt auch im religiösen Bereich, wo eine gute Verfassung der Gemeinschaft Nachhaltigkeit und Mäßigung sichern kann. Auch das ist niemals garantiert, weil Religion genauso zum Krieg, wie zum Frieden benutzt oder missbraucht werden kann. Wir sehen das heute so schrecklich sogar innerhalb der orthodoxen Kirche, wo die russische und die ukrainische Kirche, die sogar auf derselben Wurzel in Kiew gründen, miteinander so schrecklich verfeindet sind.

Auch bei uns bleiben die Kirchen von der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung nicht ausgenommen.

In unserer evangelischen Kirche wurde ja schon immer diskutiert, ob der Anspruch der Volkskirche mit all den sich daraus ergebenen Kompromissen und Unvollkommenheiten sich überhaupt mit dem Glauben vertragen kann. Heute ist diese Debatte fast schon durch die tatsächliche Entwicklung überholt, wenn die Zahl der Kirchenmitglieder insgesamt zur Minderheit wird.

Ich hatte mich als Innenminister mit den Erwartungen der wachsenden Zahl von Menschen mit muslimischer Prägung zu befassen, dass auch Muslime wie christliche Kirchen und jüdischen Gemeinschaften als Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt werden sollten – von der öffentlichen Förderung bis zur staatlichen Erhebung der Kirchensteuer. Das war einer der Gründe, warum ich die Islamkonferenz gründete, um mit Repräsentanten aus dem Bereich muslimischen Lebens in Deutschland zu klären, was das bedeutet und wie das erreicht werden könnte. Ich bin dabei übrigens von beiden christlichen Kirchen in Deutschland wie von der jüdischen Gemeinschaft von Anfang an vorbehaltlos unterstützt worden.

Die aktuelle Entwicklung in beiden Kirchen ist geprägt durch die sinkende Zahl von Gottesdienstbesuchern und die wachsende Zahl von Kirchenaustritten bzw. die steigende Zahl von jungen Menschen, die mangels Taufe gar nicht erst Kirchenmitglieder werden, also auch nicht austreten können.

So scheint es, dass die Entwicklung in der Gesellschaft die Kirchen heute stärker prägt als die Kirchen die Gesellschaft. Und wenn wir jetzt noch die Erfahrung mit den schrecklichen Missbrauchsfällen nehmen, dann scheinen die Kirchen in ihrer Autonomie nicht einmal in der Lage zu sein, ohne staatliche Hilfe das aufzuarbeiten. Das Urteil des Landgerichts Köln, dass die Kirche für Missbrauch ihrer Priester haftbar gemacht werden kann, drückt das aus. Dabei sei bemerkt, wie sehr wir auch und gerade im Land der Reformation als Katholiken und Protestanten aufeinander angewiesen sind, was sich gerade auch in der Missbrauchsdebatte zeigt. Wir Protestanten wissen, dass jede Schwächung der katholischen Kirche mittelbar auch uns betrifft.

Für Protestanten will ich noch einen anderen Aspekt zum Bereich „Kirche und Staat“ erwähnen, für den der Nürnberger Kirchentag fast symbolisch steht. Das ist die Debatte, ob unser Glaube, ob insbesondere die Bergpredigt als Handlungsrezept für praktische Politik taugt. Ich habe das nie für Richtig gehalten, weil Politik seit der Vertreibung aus dem Paradies mit der Gestaltung des Irdischen beauftragt ist. Und die hat es mit dem Menschen zu tun wie er ist, nicht wie er sein sollte, mit seiner Doppelnatur, zum Guten befähigt und doch auch im Bösen verhaftet, erlösungsbedürftig. Deshalb ist der Pazifismus als moralische Grundhaltung so respektabel wie für politische Verantwortung untauglich, wie wir jetzt angesichts Putins mörderischen Treiben in der Ukraine wieder neu lernen müssen. Selbst die Friedensforschungsinstitute haben dieser Tage gefordert, die militärische Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen. Wer wie ich als Mitglied der Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl Evangelische Kirchentage in Zeiten des Vollzugs des Nato-Doppelschlusses noch in Erinnerung hat, kann den Unterschied von Nürnberg zu damals ermessen. So ist es fast schon symptomatisch, dass Margot Käßmann an diesem Kirchentag nicht teilgenommen hat.

Zurück zu Staat und Kirche.

Wie schon gesagt, scheint heute der Einfluss der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Kirche stärker als umgekehrt. Aber leider ist kaum noch jemand mit unserer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung so richtig glücklich, wie sich auch in wachsender Neigung zu Extremismus und Populismus zeigt. Und das spricht dafür, dass die säkulare Ordnung eben doch eine werteorientierte Grundlage braucht (siehe Habermas). Also brauchen wir religiöse Orientierung, und deshalb wird die Kirche gebraucht.

Kann sie das noch?

Ich bin ein Anhänger von Karl Poppers Lehre, dass die freiheitliche Ordnung Stabilität aus der Fähigkeit gewinnt, aus Irrtümern zu lernen und Fehlern zu korrigieren, Trial and Error, Grundlage unserer Freiheit. Der Volksmund weiß: „Not lehrt beten“. Und in der Tat: Sobald ein großes Unglück unsere Öffentlichkeit erschüttert, versammeln wir uns, Angehöriger aller Religionsgemeinschaften und Menschen ohne jede religiöse Bindung, zu Gedenk- und Bittgottesdiensten. Warum also verzagen? Hölderlin sagt: „In der Gefahr wächst das Rettende“. Grund zur Hoffnung, zur Zuversicht also bleibt. Selbst in der chinesischen Sprache ist das Schriftzeichen für Krise und für Chance dasselbe. Und wer, wenn nicht die Kirchen, könnte diese Hoffnung besser vermitteln? Und deshalb bleibt die Kirche gebraucht, weil ohne sie kein guter Staat zu machen ist.

Und wenn wir das wissen, werden wir als Kirche auch unsere eigenen Probleme lösen. Wie anders als über Aufgaben wächst der Mensch und wachsen menschliche Gemeinschaften? Jubiläen sind Gelegenheit, sich dessen wieder mehr bewusst zu werden.