„Zahlen lügen nicht“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dem „Focus“

FOCUS: Sie haben auch vom Krankenbett aus Intensiv gearbeitet. Trotzdem kommt selbst In den eigenen Reihen sofort Unruhe auf, wenn der Finanzminister einige Zelt nicht persönlich erscheint. Ist das ein Problem für Sie?

Wolfgang Schäuble: Natürlich ist es schon besser, wenn ein Minister „vor Ort“ ist. Auf Dauer geht es auch nicht anders. Vom Krankenbett aus kann man aber telefonieren und mit den Mitarbeitern reden – und zur Not auch mal ein Interview führen. Aber das ist dann schon die Ausnahme.

FOCUS: Eine Ausnahme, die – so scheint es – schwer durchzuhalten ist. Sonst hätten Sie sich doch wohl eher geschont?

Schäuble: Eigentlich dachte ich, die Operation vom Januar sei harmlos. Dann war es aber so, dass die Operationsnarbe zwangsläufig genau da sein musste, wo ich sitze. Und das ist schlecht für jemanden, der nur sitzen kann. Dann war auf einmal ein Keim in der Wunde als ich entlassen werden sollte. Schnell war klar: Das sollte sich etwas hinziehen.

FOCUS: Sie sind aber gegen den Rat ihrer Ärzte früher raus.

Schäuble: Mitte März wollten die Ärzte, dass ich noch eine Woche länger bleibe, um die Wunde ganz auszukurieren. Dann meinten sie aber: Zur Not ginge es auch schon. Ich konnte damit zur wichtigen Sitzung der Euro-Gruppe. Dort haben wir beschlossen, dass das Sanierungsprogramm für Griechenland verschärft werden muss. Das war dann so ein Fall, den ich nicht vom Krankenbett aus hätte machen können.

FOCUS: Empfinden Sie Politik als gnadenlos?

Schäuble:  Ich will mich nicht beklagen. Mich hat niemand zum Beruf des Politikers gezwungen – und auch nicht zum Erscheinen bei dieser wichtigen Sitzung. In der gleichen Woche fand noch die Haushaltsdebatte im Bundestag statt. Ich hätte nicht montags an der Euro-Gruppen-Sitzung in Brüssel teilnehmen und dienstags im Parlament zur Haushaltsdebatte fehlen können. Allerdings habe ich nach gut zwei Wochen festgestellt, dass die Ärzte mit ihrer Warnung Recht behalten haben. Also musste ich noch mal in die Klinik. Die Zeit über Ostern habe ich liegend zugebracht. Nun bin ich wieder an Bord.

FOCUS: Und wie geht es ihnen jetzt?

Schäuble:  Es geht mir gut. So gut, dass mich die Ärzte schon wieder bremsen. Ich muss also noch etwas vorsichtig sein.

FOCUS: Wie verletzlich darf sich ein Politiker zeigen, der so viel Macht und Verantwortung hat?

Schäuble:  Die Frage habe ich mir vor 20 Jahren schon gestellt. Und nicht nur ich. Als ich niedergeschossen wurde und klar war, dass ich im Rollstuhl bleiben würde, haben wir uns schon gefragt: Geht das? Im Vergleich zu damals bin ich heute das blühende Leben. Bundeskanzler Helmut Kohl hat damals klar gesagt: Du machst weiter Innenminister. Ich dagegen habe mich schon gefragt: Geht das überhaupt? Kann man einem Land zumuten, einen Innenminister zu haben, der im Rollstuhl sitzt? Ich war schon sehr skeptisch.

FOCUS: Auch wenn wir Ihre Politik von Berufs wegen kritisch sehen müssen: Es ging ja – 20 Jahre lang.

Schäuble:  Ja, aber es gibt schon kritische Fragen. Kürzlich musste ich lesen, es sei schon seit Jahren kein Innenminister mehr in Afghanistan gewesen. Das hat mich sehr verletzt, denn es zielte ja auf mich. Dabei war klar: Ich kann im Rollstuhl nicht nach Afghanistan. Zur Not hätten wir das zwar hinbekommen. Aber das gehört nun wirklich zu den Dingen, die man vernünftigerweise nicht macht – angesichts der Lage dort. Ich habe für mich entschieden, das Politikerdasein im Rollstuhl auszuhalten. Deshalb gehe ich mit dieser Frage offen um. Bis hin zu der Tatsache, dass ich erzählen muss, wie es mit meinem Sitzfleisch aussieht.

FOCUS: Stört es Sie, wenn auch Parteifreunde über ihren Gesundheitszustand spekulieren und die Öffentlichkeit Fragen stellt?

Schäuble:  Nein, das ist in Ordnung. Ein Politiker trägt große Verantwortung. Er will das ja auch. Da ist es verständlich, dass die Öffentlichkeit wissen will: Kann der das? Deshalb muss sich ein Politiker auch nach seinem Gesundheitszustand fragen lassen. Wer das nicht will, kann
auch nicht Politiker sein.

FOCUS: Statt Erholung warten nur unangenehme Aufgaben auf Sie. Zum Beispiel die Krise Griechenlands. Ein hoffnungsloses Thema?

Schäuble:  Ich bin ein leidenschaftlicher Europäer. Deshalb setze ich mich für eine Lösung ein, die den Euro stabil hält. Das werden wir auch schaffen. Deutschland muss dabei – zusammen mit Frankreich – ein Stück weit führen. Dabei müssen wir die anderen europäischen Staaten mitnehmen.

FOCUS: Griechenland hat jetzt Hilfe beantragt. Wie können Sie verhindern, dass mögliche Hilfen in ein Fass ohne Boden fließen?

Schäuble: Wir tun alles dafür, dass genau diese Situation nicht eintritt. Griechenland hat mit seinem Antrag einen wichtigen Schritt getan. Die Kommission der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds prüfen jetzt den Antrag und stimmen dann mit Griechenland die gemeinsamen Bedingungen ab, unter denen das Land Hilfe bekommen kann.

FOCUS: Wie sieht Griechenlands Beitrag aus?

Schäuble: Wir müssen und werden Griechenland helfen gegen notfallspekulative Übertreibungen der Märkte. Aber wir stellen auch deutlich klar: Griechenland muss zu soliden finanzpolitischen Verhältnissen zurückkehren. Deswegen haben wir Euro-Finanzminister Griechenland ja auch zu einem harten Sanierungsprogramm verpflichtet. Das ist teilweise schon in Kraft und wird streng überprüft. Bei Verstößen fließt natürlich auch keine Hilfe. Wichtig ist, das Ziel der Hilfsmaßnahmen im Auge zu behalten: Griechenland mittel- und langfristig wieder in die Lage zu versetzen, sich selbst am Kapitalmarkt zu akzeptablen Bedingungen zu finanzieren.

FOCUS: Was kostet die Hilfsaktion den deutschen Steuerzahler?

Schäuble:  Es geht ja nicht um direkte Hilfen aus dem Bundeshaushalt, sondern um Kredite der staatlichen KfW-Bankengruppe. Die garantieren wir als Bund. Dafür bekommt der Bund eine Garantiegebühr. Erreichen wir das Ziel, Griechenland wieder kapitalmarktfähig zu machen – und davon gehe ich fest aus -, kosten die Hilfen den deutschen Steuerzahler nichts.

FOCUS: Sie haben intern schon sehr früh darauf hingewiesen, dass Deutschland sich auf eine mögliche Griechenland-Hilfe einstellen muss. Bundeskanzlerin Angela Merkel gab dagegen Im In- und Ausland die „Madame Non“. Wie tief sitzt ihr Dissens?

Schäuble:  Wir üben nur unterschiedliche Rollen aus als Minister und als Kanzlerin. Aber wir haben ein Ziel. Wir mussten auch dafür sorgen, dass Griechenland klare Zugeständnisse macht. Dafür habe ich aus Protest zum Beispiel einmal eine Sitzung früher verlassen. Wir hätten aber auch vieles nicht erreicht, wenn die Kanzlerin nicht so hartnäckig gewesen wäre. Das war mit verteilten Rollen, aber letztlich erfolgreich.

FOCUS: Fühlen Sie sich denn von der Kanzlerin bei den anstehenden Entscheidungen für den Bundeshaushalt ausreichend unterstützt?

Schäuble: Ja, sehr. Sonst würde es nicht gehen. Auch die Kolleginnen und Kollegen müssen mitziehen.

FOCUS: Es sieht aber nicht so aus, als liefe das schon in geordneten Bahnen. Die Regierung muss 2011 wegen der Schuldenbremse das Defizit um rund zehn Milliarden Euro verringern. Ihre Ressortkollegen haben aber Mehrausgaben in Höhe von rund zehn Milliarden Euro angemeldet.

Schäuble:  Die Wünsche waren so das Übliche. Deshalb ist für mich angesichts der großen Aufgabe auch klar: Mit den üblichen Verfahren ist das nicht zu schaffen. Das Kabinett und die Koalitionsfraktionen müssen gemeinsam klären, welche vorrangigen Ziele wir uns setzen wollen. Aber dazu müssen wir erst die Zahlen der Steuerschätzung und der Wirtschaftsentwicklung haben. Das wird Anfang Mai der Fall sein. Ich halte mich an den Grundsatz: Zahlen lügen nicht.

FOCUS: In der Koalition gibt es Überlegungen, sich über 2011 nach mit einem Buchungstrick zu retten, weil die Krise noch nicht vorbei sein könnte. Sehen Sie das auch so?

Schäuble: Wir machen keine Tricks. Das war im Haushalt 2010 so und gilt auch für 2011. Wir brauchen Vertrauen. Die Krise ist vorüber. Deshalb und wegen der Schuldenbremse werden wir jetzt mit der Konsolidierung der Haushalte beginnen. 2011 wird ein schwieriges Jahr, aber noch nicht das schwierigste. Die Schuldenbremse macht es für uns von Jahr zu Jahr anstrengender. Deswegen lege ich Wert auf einen mittelfristigen Finanzplan, mit dem wir glaubwürdig zeigen müssen, wie wir die Schuldenbremse für mehrere Jahre einhalten.

FOCUS: Uns fehlt die Fantasie, wie Sie angesichts dieser Lage noch eine Steuerreform unterbringen wollen. Wo ist der Spielraum?

Schäuble:  Das werden wir nach der Steuerschätzung im Mai und Juni sehen. Wir werden das zeitnah gemeinsam in der Koalition entscheiden. Der Finanzminister ist ja nicht der Oberlehrer der Regierung. Beschlüsse über Konsolidierungsmaßnahmen und Steuerentlastungen können nur im Zusammenhang getroffen werden.

FOCUS: Bedeutet das Funkstille in der Steuerpolitik?

Schäuble: Überhaupt nicht. Wir entscheiden nicht vor Juni, was wir machen können. Wir müssen uns aber vorrangig um die Kommunalfinanzen kümmern. Ohne dass ich jetzt schon in Details gehen kann, wird das dazu führen, dass Bund und Länder etwas vom Steuerkuchen an die Städte und Gemeinden abgeben. Ich werde den Handlungsspielraum nicht künstlich erweitern können.

FOCUS: Wann bereiten Sie Ihre Kollegen und das Volk auf den Mentalitätswechsel vor, der mit dem Haushalt 2011 eintreten muss?

Schäuble:  Die Menschen sind in aller Regel klüger, als die veröffentlichte Meinung den Eindruck erweckt. Die Bevölkerung ist überwiegend von der Notwendigkeit überzeugt, die öffentlichen Haushalte in Ordnung zu bringen. Die Zustimmung zu Steuersenkungen hat in den Meinungsumfragen sehr viel weniger Gewicht als der Wunsch der Menschen nach einer Rückführung der hohen Verschuldung.

FOCUS: Wir sehen aber noch nicht, wo die ersten zehn Milliarden herkommen sollen.

Schäuble:  Es ist eine ehrgeizige Aufgabe. Ich will sie nicht kleinreden. Aber ich warne auch davor, so zu tun, als wäre sie unmöglich. Oder als würde sie mit einer allgemeinen Verarmung verbunden sein.

FOCUS: Aber das Defizit wird sich nicht nur über bessere Wirtschaftsdaten quasi von selbst verringern. Sie müssen entweder die Ausgaben kürzen oder die Steuern erhöhen. Worauf müssen wir uns einstellen?

Schäuble:  Klar ist, dass es ohne Einsparungen nicht geht. Wir haben erklärt, dass wir keine Steuern erhöhen wollen. Das wäre auch angesichts der aktuellen Wirtschaftslage falsch. Zur Lösung der Probleme gehört unbedingt, Ausgaben zu kürzen bzw. sie an anderer Stelle nur sehr moderat steigen zu lassen. Das ist wirklich eine Großaufgabe. Aber ich warne vor einer Panikmache. Unser Sparprogramm wird die Menschen in ihren existenziellen Lebensgrundlagen nicht berühren.

FOCUS: Bei der Kürzung von Ausgaben kommen Sie an den Sozialetats nicht vorbei. Oder?

Schäuble:  Von pauschalen Kürzungen halte ich nichts. Wir müssen wieder und wieder alle Maßnahmen daraufhin überprüfen, ob sie auch das erreichen, was sie sollen. Deshalb haben wir auch eine Überprüfung der familienpolitischen Leistungen verabredet. So steht es im Koalitionsvertrag, und so werden wir es auch machen.

FOCUS: Was kann wegfallen?

Schäuble:  Dazu habe ich mir noch keine Meinung gebildet. Wir prüfen ja erst noch. Die Rentner müssen damit leben, dass es für sie eine ganze Zeit lang keine Steigerungen gibt. Aber wir werden ihnen keine Kürzungen zumuten. Schließlich leben die meisten eher in bescheideneren Einkommensverhältnissen. Unser Sparprogramm werden die Menschen als fair empfinden.

FOCUS: Steuern wollen Sie nicht erhöhen. Aber kommen Einnahmenverbesserungen durch eine Pkw-Maut in Betracht?

Schäuble:  So hat es das Umweltbundesamt vorgeschlagen. Ich weiß natürlich auch, dass Autofahrer schon erheblich belastet sind. Daneben stellen sich eine Menge komplizierter Fragen. Wenn eine Maut entfernungsabhängig erhoben würde, wäre das technisch zwar machbar, aber aus Gründen des Datenschutzes ein Problem.

FOCUS: Sie wären aber dafür?

Schäuble:  Ich habe mich nicht auf irgendwelche Vorschläge festgelegt. Ich werde meinen Beitrag leisten, dass die notwendigen Entscheidungen Ende Juni zu Stande kommen. Punkt.

FOCUS: Sie haben schon einmal den Start einer schwarz-gelben Koalition miterlebt, Anfang der 80er-Jahre. Da waren Sie Parlamentarischer Geschäftsführer Ihrer Fraktion. Was lief damals besser als heute?

Schäuble:  Wir kamen damals aus der Opposition. Die FDP hatte den Regierungspartner gewechselt und ein Drittel ihrer Leute verloren, was nicht einfach für sie war. Mir fällt beim besten Willen nicht ein, wie wir es vergleichen sollten. Die Zeiten waren so anders.

FOCUS: Aber eine Konstante: Wolfgang Schäuble ist noch dabei.

Schäuble:  Ja, aber dieser Wolfgang Schäuble ist auch nicht mehr derselbe wie damals. Ich bin demütiger geworden im Laufe der Jahre. Aber Politik macht mir immer noch sehr viel Freude. Wenn ich Bilder von damals anschaue, merke ich allerdings auch, dass ich ein gutes Stück älter geworden bin.

Mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sprachen Frank Thewes und Cordula Tutt. In: FOCUS 17/10 vom 26. April 2010.