„Wir leben nicht auf einer Insel“



Interview mit Bundesinnenminister Schäuble und Bundesverteidigungsminister Jung in der Monatszeitschrift „Union“ (Ausgabe 1/2008)
UNION:

Herr Minister Schäuble, Herr Minister Jung, Sie beide tragen große Verantwortung für die Sicherheit Deutschlands. Was sind Ihrer Einschätzung nach gegenwärtig die größten Bedrohungen für unser Land?

Schäuble: Die großen Bedrohungen unserer Sicherheit haben damit zu tun, dass wir in die Globalisierung eingebunden sind. Diese eröffnet vielfältige neue Chancen, aber eben auch neue Risiken und Bedrohungen. Denn wir sind eben auch Teil eines weltweiten Gefahrenraums.

Jung: Aus meiner Sicht haben wir aktuell vor allem drei Bedrohungen unserer Sicherheit: Erstens den internationalen Terrorismus, zweitens Massenvernichtungswaffen und drittens die Bedrohung durch Krisenkonfliktsituationen oder Staatszerfall.

UNION: Das Thema Terrorismus bewegt die Gemüter sicher am stärksten. Wie stark ist Deutschland tatsächlich gefährdet? Wenn wir so viel wüssten, wie Sie beide wissen, müssten wir uns dann wesentlich mehr Sorgen machen?

Schäuble: Wir müssen uns nicht zu viele Sorgen machen oder in Panik verfallen. Wir haben gut aufgestellte Sicherheitsbehörden, die ausgezeichnete Arbeit leisten. Wir sind außerdem eng vernetzt mit unseren Bündnispartnern und nehmen unsere Verantwortung ernst. Aber sich auszuruhen wäre völlig falsch. Wir erleben heute ganz neue Formen von Bedrohung, auf die wir uns ständig neu einstellen müssen ? etwa solche, die durch Entwicklung der Informationstechnologie entstehen. Erhöhte Wachsamkeit brauchen wir im Bereich der Äußeren Sicherheit wie auch bei der Kriminalität ins Inland. Die Grenzen zwischen Terrorismus, zwischen staatlichen oder politischen Auseinandersetzungen und organisierter Kriminalität sind heute fließend.

Jung: Wichtig ist eben auch, nicht abzuwarten, bis eine Bedrohung immer größer wird, und sich dann erst zu fragen, was man tun kann. Wir müssen vorausschauend handeln und die Risiken unmittelbar dort beseitigen, wo sie entstehen. Die Gefahr an der Quelle zu beseitigen ist wesentlich klüger, als wenn sie in größerer Dimension das eigene Land erreicht. Dieser Punkt spielt auch bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine besondere Rolle.

UNION: Aber Einsätze wie der in Afghanistan stoßen bei den Bürgern vielfach auf Vorbehalte.

Jung: Wir müssen die Bevölkerung noch stärker davon überzeugen, dass es nicht nur um Stabilität und eine friedliche Entwicklung – etwa in Afghanistan – geht, sondern auch um die Sicherheitsinteressen Deutschlands. Es liegt in unserem eigenen Interesse, dass dort nicht wieder Ausbildungscamps für Terroristen entstehen.

UNION: Viele Menschen sind auch deshalb gegen Auslandseinsätze, weil sie meinen, Deutschland werde dadurch erst recht zum Ziel von Terroranschlägen. Sehen Sie diese Gefahr?

Jung: Nein, die sehe ich auf keinen Fall. Das Gegenteil ist wahr: Auslandseinsätze liegen in unserem Interesse, sie machen unser Land sicherer. Wir müssen mit den Auslandseinsätzen unbedingt mit dafür Sorge tragen, dass die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus geringer wird. Deshalb engagieren wir uns in Afghanistan, auf dem Balkan oder am Horn von Afrika. Denn wir leben hier nicht auf einer Insel, auch wenn wir bisher Glück gehabt haben. Es geht heute für die Bundeswehr nicht mehr alleine um Landesverteidigung. Da müssen wir umdenken. Die Bundeswehr ist längst zu einer Armee im internationalen Einsatz für den Frieden geworden, und zwar auch im Interesse der Sicherheit Deutschlands.

Schäuble: Gerade in Fragen der Sicherheit zeigt sich übrigens, wie alternativlos richtig die Politik der europäischen Einigung ist. Nicht nur, dass wir die Grenzkontrollen zu unseren neuen Nachbarn in der Europäischen Union abgeschafft haben. Das Engagement für die europäische Einigung, das unsere gemeinsame Priorität ist, gehört zu einem der wichtigsten vorausschauenden Elemente für unsere Sicherheit.

UNION: Aber genau diese offenen Grenzen scheinen doch zunächst wie eine zusätzliche Gefährdung der Sicherheit: freie Bahn für Schmuggler, Kriminelle und Terroristen?

Schäuble: Im Gegenteil. Das ist eine Chance für mehr Freiheit und mehr Sicherheit. Natürlich gab und gibt es in der Bevölkerung entlang der Grenze Besorgnis. Aber wir haben jetzt schon erste Erfahrungsberichte der Bundespolizei sowie der Landespolizeien von Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Bayern. Sie melden, dass die Abschaffung der Grenzkontrollen am 21. Dezember 2007 nicht zu erhöhter Kriminalität geführt hat, sondern dank besserer Kooperation zu deutlich mehr Fahndungserfolgen.

UNION: Kommen wir zu Maßnahmen für mehr Sicherheit, die das Inland betreffen. Es gibt seit Anfang des Jahres ein neues Gesetz über die Speicherung von Telefon- und lnternetdaten. Kritiker werfen der Bundesregierung vor, sie mache damit 80 Millionen Deutsche zu potenziellen Straftätern.

Schäuble: Dieses völlig unbegründete Schüren von Ängsten erinnert mich an die Diskussion um die Volkszählung vor 20 Jahren. Damals hat man auch den Überwachungsstaat an die Wand gemalt, und hinterher haben sich die Leute gefragt: Wieso haben wir uns eigentlich so aufgeregt? Worum geht es denn bei der Vorratsdatenspeicherung? Zunächst haben wir mit diesem Gesetz eine europäische Richtlinie umgesetzt. Nach dem Willen der EU sollen die Daten, die die Telefongesellschaften zur Rechnungsstellung ohnedies brauchen, für ein paar Monate vorrätig gehalten werden. So lässt sich bei Festnetzanschlüssen nachvollziehen, wofür die Rechnung gestellt wird. Strafverfolgungsbehörden können dann im Einzelfall und bei gegebenem Verdacht prüfen, ob zum Beispiel ein Verdächtiger gestern oder heute mit Pakistan telefoniert hat. Gibt es da vielleicht eine Verbindung zu al-Qaida? Entscheidend ist aber, dass solche Überprüfungen ausschließlich auf richterliche Anordnung geschehen können. Man macht die Leute damit wirklich nicht zu Verdächtigen. Das ist grober Unsinn und eine Diffamierung.

Jung: Eine solche Speicherung verletzt nicht die Freiheit der Bürger. Der Staat muss ja handlungsfähig bleiben. Es wird niemand ausgehorcht, sondern nur bei einem vorliegenden Grund schauen sich die Behörden die Verbindungsdaten an.

UNION: Kritiker Ihrer Politik wenden aber genau dies ein: Dass die Vorratsdatenspeicherung und andere Maßnahmen der Inneren Sicherheit letzten Endes zu immer weniger Freiheit führen. Geht mehr Sicherheit zulasten der Freiheit?

Schäuble: Nein. Vor ein paar Monaten hauen wir die Diskussion, ob Videokameras an öffentlichen Plätzen die Freiheit der Menschen bedrohen. In jüngster Zeit sind nun einige Straftaten, etwa als ein älterer Mann in der Münchner U-Bahn brutal zusammengeprügelt wurde, genau dank der Videokameras relativ schnell aufgeklärt worden. Jetzt sind die meisten Menschen froh, dass wir Videokameras haben. Sie fühlen sich mit ihnen sicherer an öffentlichen Plätzen als ohne sie. Es ist doch wichtig zu wissen, dass man nicht schutzlos ist, dass der Staat auch in der Lage ist, seine Schutzpflicht wahrzunehmen. Der Staat hat das Gewaltmonopol. Das heißt aber auch, dass er seine Verpflichtungen, die Bürger zu schützen, nach außen wie nach innen erfüllen muss. Dafür gibt es die notwendigen Organe, und die müssen auf rechtlicher Grundlage arbeiten. Diese Organe darf man aber nicht diffamieren, als seien sie die Bedrohung. Um es klar zu sagen: Der freiheitliche Verfassungsstaat bedroht die Freiheitsrechte nicht, er schützt sie.

Jung: Ich füge hinzu, dass mehr Sicherheit auch mehr Freiheit bedeutet. Wenn Sie Angst haben, in die Stadt zu gehen oder mit der U-Bahn zu fahren, weil Sie sich nicht sicher fühlen, sind Sie in Ihrer Freiheit eingeschränkt. Deshalb brauchen Sie Sicherheit, um Ihre Freiheit erst verwirklichen zu können. Man kann das an konkreten Beispielen deutlich machen: Als wir in Frankfurt gegen massiven Widerstand der SPD an bestimmten Platzen Videokameras aufgestellt haben, sind die Straftaten dort erheblich zurückgegangen. Damit hatten und haben die Bürger auch mehr Freiheit.

UNION: Was viele Bürger beunruhigt, ist die Jugendkriminalität. Sollte angesichts der jüngsten Gewalttaten das Strafrecht für jugendliche Täter verschärft werden?

Schäuble: Eine wachsende Zahl junger Menschen ist heute schwerer erziehbar und schwerer in unsere Werteordnung einzufügen. Dafür gibt es viele Ursachen: Integrationsdefizite, soziale Ursachen und auch die Informationsvermittlung in einem Teil der modernen Medien. Daraus erwächst leider auch Jugendkriminalität, der wir mit aller Entschiedenheit begegnen müssen. Ein Element ist dabei natürlich auch das Strafrecht. Wir müssen uns bemühen, junge Menschen auf den rechten Weg zu führen. Dazu gehört, dass man ihnen gelegentlich Grenzen klar aufzeigt: bis hierher und nicht weiter. Deswegen muss beispielsweise darüber nachgedacht werden, frühzeitiger nicht nur Bewährungsstrafen zu verhängen, sondern einen Warnschussarrest. Außerdem müssen bei schweren Straftaten auch angemessen schwere Strafen verhängt werden. Wenn Vertreter des Richterbunds sagen, die geltenden Gesetze reichen aus, dann sage ich: Gut, nur müssen die Strafmaßnahmen von den Gerichten auch ausgeschöpft werden.

UNION: Reichen die Gesetze aus Ihrer Sicht nicht aus?

Schäuble: Die Union hat seit Jahren immer wieder auf Schwachpunkte im geltenden Recht hingewiesen. An bestimmten Stellen sollte das Strafrecht ergänzt werden. Bei schweren Straftaten ist dafür zu sorgen, dass eine weitere Gefahr für die Allgemeinheit nicht mehr gegeben ist. Die aktuellen Vorfälle von Jugendgewalt sind ein Anlass, nochmals auf diese rechtlichen Defizite hinzuweisen. Unser zaudernder Koalitionspartner sollte endlich die Notwendigkeit dessen einsehen, was wir seit Jahren fordern.

Jung: Wenn 43 Prozent der Gewaltstraftaten von Jugendlichen unter 21 Jahren ausgeübt werden, dann macht dies deutlich, dass Handlungsbedarf besteht! Man muss einerseits vonseiten des Staates klare Grenzen setzen und andererseits alle pädagogischen Möglichkeiten nutzen. Das tun wir in Hessen zum Beispiel mit einem Erziehungscamp, dem Boxcamp in Kassel. Damit werden hervorragende Erfolge erzielt. Konsequenz des Staats gehört aber auch dazu. Ich habe schon als Hessischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten im Bundesrat beantragt, dass Straftäter, die zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt worden sind und die einen ausländischen Hintergrund haben, dann auch abgeschoben werden können. Das ist damals immer am Widerstand der SPD gescheitert. Aber wer ein Jahr Freiheitsstrafe erhält, der hat erhebliche Schuld auf sich geladen. Ich glaube, er hat dann auch die Grundlage verwirkt, sich weiter hier in Deutschland aufhalten zu können.

UNION: Eine aktuelle Studie des Bundesinnenministeriums hat eine hohe Gewaltbereitschaft unter den in Deutschland lebenden Muslimen festgestellt. Wie ist damit umzugehen?

Schäuble: Man muss zunächst den größeren Zusammenhang sehen: Der Islam ist längst ein Teil unseres Landes geworden. Das stellt uns vor neue Herausforderungen. Wir sollten das aber in erster Linie nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung empfinden. Deshalb hat die Bundeskanzlerin zu Beginn der Legislaturperiode gesagt, wir müssen uns darauf konzentrieren, die Integration zu verbessern. Da gab es viele Defizite, und an die Beseitigung dieser Defizite haben sich die Bundesregierung und die Bundesrepublik auf allen Ebenen gemacht. Das bedeutet aber nicht, dass wir die bestehenden Probleme vertuschen. Niemand ist berechtigt, aus welchen Frustrationen oder Benachteiligungen auch immer heraus, Recht und Gesetz zu brechen.

Jung: Ich möchte ein Beispiel anführen, wo Integration funktioniert: Wir haben bereits mehrere Hundert Muslime als Soldaten in der Bundeswehr. Wir sind stolz darauf, dass in der Bundeswehr diese Integrationsleistung gelingt. Das ist der richtige Weg.

UNION: Geht es nach dem neuen Grundsatzprogramm der CDU, dann soll die Bundeswehr im Bedrohungsfall auch im Inland eingesetzt werden. Wie steht der Verteidigungsminister dazu?

Jung: Ich halte es für richtig und notwendig, dass wir diesen Aspekt im Grundsatzprogramm so formuliert haben. Denn heute kann man Äußere und Innere Sicherheit eben nicht mehr streng voneinander trennen. Früher war es so: Für die Äußere Sicherheit sind Soldaten zuständig, für die Innere Sicherheit die Polizei. Das hat sich durch die neuen Bedrohungen, über die wir gesprochen haben, dramatisch verändert. Wir wollen aber natürlich nicht, dass die Bundeswehr routinemäßig Aufgaben der Polizei übernimmt. Die Polizei hat weiterhin ihre Aufgaben im Inneren. Aber wenn die Fähigkeiten der Polizei nicht mehr ausreichen, um unsere Bevölkerung wirkungsvoll zu schützen, dann muss es möglich sein, die Bundeswehr einzusetzen. Sei es etwa bei terroristischen Anschlägen aus der Luft oder bei Angriffen von See.

Schäuble: Im Grunde müssen wir klarstellen, dass die Zuordnung nicht mehr nach den Grenzen von ?innen“ und ?außen“ geht, sondern nach der Qualität des Angriffs. Das ist der eigentliche Punkt. Es gibt spezifische Aufgaben, die nur die Polizei leisten kann. Das gilt übrigens auch außerhalb unseres Landes. Auf dem Balkan gibt es Aufgaben, die kann die Polizei, nicht aber die Bundeswehr leisten. Umgekehrte Fälle gibt es eben auch. Ob Polizei oder Militär besser einzusetzen sind, hängt von der Art der Bedrohung ab, nicht davon, ob der Einsatz außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes, also der Landesgrenzen, stattfindet oder nicht. Und das muss klargestellt werden. Auch verfassungsrechtlich.

UNION: Als Minister müssen Sie beide immer wieder weitreichende Entscheidungen treffen. Welche Bedeutung hat da für Sie eigentlich die christliche Ethik?

Schäuble: Zunächst, einmal spielt der christliche Glauben für mich eine entscheidende Rolle bei unserem grundlegenden Verständnis von Menschen und von der Art, wie Menschen zusammenleben. Es geht um das, was wir mit der Formel ?christliches Menschenbild“ ausdrücken. Die Doppelnatur des Menschen, ?zur Freiheit berufen“ und zugleich ?in der Sünde verstricke“, halte ich für entscheidend. Nach meiner Überzeugung heißt das auch, dass wir Menschen zum Handeln berufen sind in dieser Welt, in dem Wissen, dass uns nicht alles anvertraut ist, dass wir auch scheitern können, dass wir fehlerhaft sind.

Jung: Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbilds ist der Grund, weshalb ich in der CDU bin. Dazu gehört ganz zentral die Würde des Einzelnen, die durch nichts eingeschränkt werden kann. Vor Gott sind alle Menschen gleich ? deshalb hat jeder die gleichen Rechte, die auch im Grundgesetz so festgeschrieben sind. In der Präambel des Grundgesetzes ist auch festgehalten, dass wir in Verantwortung vor Gott stehen. Genau diese grundlegenden Gesichtspunkte, die in der Verfassung ihren Widerhall finden, sind Fundamente unseres Handelns, gerade wenn es um schwierige Entscheidungen geht, die oft mit der Frage von leben und Tod zu tun haben.

UNION: Herr Minister Jung, Herr Minister Schäuble, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.