„Wir dürfen vor Krawallmachern nicht zurückweichen“



Bundesinnenminister Dr. Schäuble spricht in der BILD am Sonntag über Deutschland 20 Jahre nach der Wende und erklärt, warum der Staat vor Krawallmachern nicht zurückweichen darf

BILD am SONNTAG: Herr Minister, in zwei Wochen wird ein neuer Bundespräsident gewählt. SPD-Chef Franz Müntefering will so lange „durchwählen“, bis Gesine Schwan gewonnen hat. Hat sie eine Chance?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Ich bin davon überzeugt, dass unser allseits geschätzter Bundespräsident Horst Köhler von der Bundesversammlung wieder gewählt wird – und zwar schon im ersten Wahlgang. Ich glaube, dass sie mit ihrer erneuten Kandidatur gegen Köhler eher an Ansehen verlieren als gewinnen wird. Die Art, wie sie jetzt Wahlkampf um das höchste Amt im Staat führt, ist ein Beleg dafür.

BILD am SONNTAG: In Berlin, aber auch in anderen Städten, hat es am 1. Mai die brutalsten Straßenschlachten seit Jahren gegeben. Müssen sich die Bürger damit abfinden, dass der Staat ein-, zweimal pro Jahr ihre Sicherheit nicht mehr garantieren kann?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Damit müssen und dürfen sich die Bürger nicht abfinden – und die verantwortlichen Politiker auch nicht. Frieden und Freiheit beruhen auf dem Prinzip des staatlichen Gewaltmonopols. Dieses gilt zu jeder Zeit auf jedem Quadratmeter Boden der Bundesrepublik – in Baden-Baden genauso wie in Berlin-Kreuzberg.

BILD am SONNTAG: Man gewinnt aber den Eindruck, einer militanten Szene wird hier das Recht zugestanden, ihre gewalttätige Folklore auszuleben . . .

WOLFGANG SCHÄUBLE: Egal ob linke oder rechte Gewalt – es darf mit solchen Gewalttätern keine klammheimliche Solidarität geben. Ein Zurückweichen kommt nicht in Frage. Sicher wird auch die extreme Gewalt gegen Polizisten auf der nächsten Innenministerkonferenz der Länder Anfang Juni gründlich erörtert werden.

BILD am SONNTAG: Die USA haben Deutschland um die Aufnahme von Guantánamo-Häftlingen gebeten. Warum sollen wir den USA ein Problem abnehmen, das sie allein zu verantworten haben, und die innere Sicherheit in Deutschland beeinträchtigen?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Die USA haben Unterlagen über Häftlinge übermittelt und gebeten, eine Aufnahme in Deutschland zu prüfen. Als Bundesinnenminister bin ich dafür zuständig, jeden Fall einzeln zu prüfen. Aber: Was wir bis jetzt an Unterlagen aus Washington erhalten haben, reicht für die nach dem Gesetz zu treffende Entscheidung über eine Aufnahme noch in keinem einzigen Fall aus.

BILD am SONNTAG: Nach welchen Kriterien werden Sie entscheiden?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Erstens: Ist es hinreichend sicher, dass von diesen Menschen keine Gefahr ausgeht? Das ist auch eine Sorge vieler Bürger. Zweitens: Warum können nicht die USA die betreffenden Menschen aufnehmen? Und drittens: Gibt es einen Bezug zu Deutschland?

BILD am SONNTAG: Sie haben jüngst einen Einsatz der GSG 9 in letzter Minute abgesagt, mit dem fünf deutsche Geiseln an Bord der „Hanse Stavanger“ aus der Hand somalischer Piraten befreit werden sollten. Wie frustrierend war das für Sie?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Frustrierend ist der falsche Begriff. Aber es war sicher enttäuschend, dass wir die Geiseln nicht freibekamen.

BILD am SONNTAG: Woran hat es gelegen?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Die Bundeswehr allein verfügt nicht über die notwendigen Mittel, eine solche Geiselbefreiung auf See durchzuführen. Also haben wir einvernehmlich entschieden, die GSG 9 nach Afrika zu verlegen. Bis sie vor Ort war, hatten die Entführer die „Hanse Stavanger“ allerdings schon auf Reede gelegt. Es kamen immer mehr Piraten an Bord, die Lage wurde deutlich gefährlicher. Kurz vor dem Start der Operation haben wir dann nach Rücksprache mit dem Einsatzleiter vor Ort entschieden abzubrechen. Das Risiko war zu hoch, dass bei einer Befreiungsaktion Geiseln oder Polizisten getötet werden. Ich kann Ihnen versichern, das sind Entscheidungen, die einen manchmal schlecht schlafen lassen.

BILD am SONNTAG: Es bleibt also dabei: Amerikaner und Franzosen schicken Spezialeinheiten, die Deutschen Lösegeld . . .

WOLFGANG SCHÄUBLE: Die GSG 9 ist laut Gesetz für solche Einsätze zuständig. Aber eigentlich ist das eine Aufgabe für die Bundeswehr. Dafür müssen wir ihr aber auch die rechtlichen Grundlagen durch eine Grundgesetzänderung geben. Diese Änderung hatten wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Sie ist am Widerstand der SPD gescheitert.

BILD am SONNTAG: Herr Minister, die Union will im Wahlkampf die Wähler mit Steuersenkungen locken. Dies kostet den jetzt schon hoch verschuldeten Staat Milliarden, die er nicht hat. Bereiten CDU und CSU einen Wahlbetrug vor?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Nein. Der Spielraum für Steuersenkungen ist außergewöhnlich gering. Niemand kann im Augenblick sagen, ob und wann er gegeben sein wird. Zunächst einmal müssen wir die wirtschaftliche Talfahrt beenden. Keiner weiß heute wirklich, wie die Lage im nächsten Jahr sein wird.

BILD am SONNTAG: Und wenn es 2010 wirtschaftlich wieder bergauf geht?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Dann hat, wie Kanzlerin Angela Merkel sagt, die Senkung der Neuverschuldung Priorität. Danach kommen Zukunftsinvestitionen. Und die Steuerschätzung Ende Mai wird zeigen, dass für weitere Entlastungen der Bürger kaum Spielraum besteht. Wir sollten den Menschen hier reinen Wein einschenken. Im Übrigen werden die Bürger ab 2010 ja durch die Absetzbarkeit der Krankenversicherungsbeiträge um 10 Milliarden Euro entlastet.

BILD am SONNTAG: Wenn die Prognosen der Wirtschaftsforscher zutreffen, findet der Wahlkampf in diesem Jahr auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise statt. Können Kanzlerin und Vizekanzler im Herbst wählerwirksam aufeinander eindreschen?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Die Union macht derzeit keinen Wahlkampf, denn wir haben alle Hände voll zu tun. Viel wichtiger als jetzt schon Wahlkampf zu machen ist doch, dass wir Deutschland in dieser schwierigen Zeit gut regieren.

BILD am SONNTAG: Aber an einen Wahlsieg der Union glauben Sie schon?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Ich bin mir sicher, dass wir die Wahl gewinnen und zusammen mit der FDP eine Koalition bilden. Die SPD wird nicht – wie 2002 und 2005 – in den letzten Wochen aufholen.

BILD am SONNTAG: Warum nicht?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Weil dieses Mal wir die Kanzlerin stellen. Das wird uns einen Bonus verschaffen. Im Übrigen: Große Teile der SPD freuen sich doch längst auf die Opposition, um wieder linke Politik betreiben zu können.

BILD am SONNTAG: 20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist das Ansehen von Demokratie und Marktwirtschaft in den neuen Ländern auf dem Tiefpunkt. Wie erklären Sie sich das?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Dinge, die uns als einigermaßen selbstverständlich erscheinen, verlieren an Wertschätzung. Die Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern hat auch nach der Wiedervereinigung das Gefühl, sie habe es im Vergleich zu den Westdeutschen schwerer. Mit dem Einigungsprozess waren und sind mehr Enttäuschungen verbunden, als wir Wessis es uns klarmachen. Diktatur und erzwungene Teilung hinterlassen Narben, die bleiben.

BILD am SONNTAG: Die Verklärung der DDR sehen Sie nicht als Problem?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Sie ist teilweise eine Reaktion auf die vermeintliche Arroganz der Westdeutschen. Aber es sind auch richtige Geschichtsfälscher unterwegs: Politiker der Linkspartei etwa, die leugnen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Diese Rattenfänger behaupten dann, wir hätten keinen Respekt vor der Lebensleistung der Menschen, die in der DDR gelebt haben. In Wahrheit wollen sie unter dem Deckmantel der Krise wieder den Sozialismus einführen.

BILD am SONNTAG: Nach der von der CDU knapp gewonnenen Bundestagswahl 1994 war Helmut Kohl fest entschlossen, Sie zu seinem Nachfolger als Bundeskanzler zu machen. Zehn Jahre später war Angela Merkel fest entschlossen, Sie zum Bundespräsidenten zu machen. Würden Sie heute sagen: Es ist gut so, dass es anders gekommen ist?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Ich teile Ihre Ausgangsthesen in beiden Fällen nicht. Aber ich habe schon damals gesagt: Ich bin froh, wenn die Versuchung an mir vorübergeht. So sehe ich es auch heute noch.

BILD am SONNTAG: Sie waren einer der engsten Mitarbeiter Kohls, haben zusammen mit ihm die deutsche Einheit gestaltet. Doch seit Jahren ist Ihr Verhältnis zerrüttet. Glauben Sie, dass Sie und Kohl noch einmal einen Weg zueinander finden?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Ich habe mein enges Verhältnis zu Helmut Kohl seinerzeit in einem persönlichen Gespräch mit ihm beendet. Das war und ist in unser beider Interesse. Es ändert überhaupt nichts an meinem Respekt vor seiner Leistung und an meinem Wunsch, dass er mit den Erschwernissen des Älterwerdens möglichst gut zurechtkommt.

(Das Interview führten Michael Backhaus, Roman Eichinger, Walter Mayer)