Vom Streit zur Entscheidung. Um das Prinzip der Repräsentation zu stärken, brauchen wir wieder mehr strittige Debatten.



Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 10.10.2019. Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung der Rede, die er am 10. September 2019 auf der Veranstaltung „70 Jahre CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag“ gehalten hat.

Im Jahr 2011, zur Zeit der europäischen Schuldenkrise und der Euro-Rettungsschirme, erschien ein kleiner Sammelband über das freie Mandat, das Rederecht und die Fraktionen. Herausgegeben wurde es vom vormaligen Verfassungsgerichts- und Bundespräsidenten Roman Herzog. Darin schreibt der damalige F.A.Z.-Parlamentskorrespondent Günter Bannas, selbst langgediente Abgeordnete würden mehr und mehr das Gefühl bekommen, „die Freiheit ihres Gewissens habe sich vor allem auf den Erhalt der Regierungsfähigkeit ihrer Fraktion zu konzentrieren“. Der Befund sollte ein Urgestein der Parlamentsberichterstattung wie Bannas nicht wirklich erstaunen. Schließlich führt diese Beobachtung mitten hinein in das spannungsvolle Verhältnis zwischen Abgeordneten, Fraktion und – gegebenenfalls – Regierung.

Formal spielen die Fraktionen in unserer politischen Ordnung gar keine herausgehobene Rolle; das Grundgesetz betont den Abgeordneten mit seinem freien Mandat. Fraktionen tauchen nur in Artikel 53 Absatz 1 Satz 2 auf, in den Bestimmungen zur Zusammensetzung des Gemeinsamen Ausschusses, der im Verteidigungsfall das Notparlament darstellt. Und doch sind Fraktionen aus dem politischen Alltag nicht wegzudenken, als „notwendige Einrichtungen des ,Verfassungslebens'“, wie sie das Bundesverfassungsgericht bezeichnet hat. Die Demokratiegeschichte unseres Landes zeigt: ohne stabile Fraktionen kein stabiles Parteiensystem. Hans-Peter Schwarz schrieb, dass Fraktionen „recht ingeniös das Prinzip der Repräsentativität mit dem Gebot der institutionellen Stabilität verbinden“.

Es ist eben nicht einfach, aus der Vielfalt der ganz unterschiedlichen Auffassungen, Probleme, Schicksale zu gemeinsamen Handlungen zu kommen. Aber ohne sie geht es nicht. Es braucht in der pluralen Gesellschaft die Reduzierung auf entscheidungsfähige demokratische Mehrheiten. Der Sinn von Fraktionen liegt doch gerade darin begründet, aus den vielen Meinungen auch jedes Abgeordneten ebendiese Mehrheiten zu bilden. Geschlossenheit ist wichtig, aber es müssen nicht alle einer Meinung sein – es braucht Raum für die begründete kritische Rückfrage. In der Bevölkerung wird sie schließlich auch gestellt. Die Fraktion einer Volkspartei hat zwar die Aufgabe, widerstreitende Interessen zu integrieren, das heißt aber nicht, dass deshalb nicht gestritten werden sollte. Im Gegenteil. Wir müssen Differenzen untereinander austragen, sie auch aushalten. Es ist wie in der Statik: Stabilität entsteht durch Widerlager – und auch im Interesse der Regierung und des eigenen Kanzlers oder der eigenen Kanzlerin ist es keineswegs nur schädlich, solche Widerlager zu haben. Es dürfen nur nicht zu viele sein, denn wenn die Widersprüche überdehnt werden, dann wird’s brüchig. Deswegen gilt das Prinzip, dass man zwar lange diskutiert, aber am Ende mit Mehrheit entscheidet und das dann auch umsetzt. Dass das umso besser klappt, je knapper die Mehrheit im Parlament ist, gehört dabei zu den interessanten Erfahrungswerten.

Eine Koalition verschärft das Problem der Balance zwischen freiem Abgeordnetenmandat und notwendiger Fraktions-Geschlossenheit noch einmal. Man muss sich untereinander verständigen, und es geht auch nicht ohne das wechselseitige Zugeständnis, nicht mit wechselnden Mehrheiten abzustimmen. Aber Koalitionsverträge müssen nicht zwangsläufig in bürokratische Monster ausarten mit Festlegungen, die im parlamentarischen Alltag dann nur noch abzuarbeiten sind. Das bedeutet die Ersetzung der Politik durch bloße Bürokratie.

Natürlich braucht es die politische und parlamentarische Alltagsarbeit. Politische Führung verlangt aber den Blick für die wirklich großen Aufgaben – und die Fähigkeit, das gesellschaftliche Interesse darauf zu lenken. Die Menschen von der Dringlichkeit zu überzeugen, die Richtung vorzugeben und Orientierung zu vermitteln. Auch Demokratie braucht Führung, Charisma. Das Parlament ist eben immer auch Bühne und nicht bloß eine notarielle Veranstaltung. Wenn wir das Prinzip der Repräsentation wieder stärken wollen, dann müssen wir uns wieder mehr um diese Faszination der großen, strittigen Debatte bemühen.

Und das nicht nur im Plenum, auch in der Fraktion. Ich erinnere mich noch lebhaft an die heftigen Auseinandersetzungen vor und nach der Wahl 1972 um die Ostverträge. Diese ost- und deutschlandpolitische Debatte wurde nicht nur leidenschaftlich zwischen Regierung und Opposition geführt, sondern auch innerhalb unserer Fraktion. Das hat lange nachgewirkt – aber es hat uns am Ende nicht geschadet, so wenig wie im Jahrzehnt zuvor der Streit zwischen Transatlantikern und Europäern um Eugen Gerstenmaier und den damaligen Außenminister Gerhard Schröder. Es hat nicht geschadet, weil jeder sehen konnte: Wir machen es uns nicht leicht, wir ringen um unsere Position – was im Übrigen am Ende auch ermöglichte, die Unterlegenen weiter einzubinden.

Der beständige Ausgleich der widerstreitenden Positionen innerhalb der eigenen Fraktion – zwischen dem Abgeordneten und seiner Fraktion, zwischen Fraktion und Regierung -, ist nicht nur eine hohe Kunst. Sie ist Konstruktionsprinzip und Voraussetzung der Stabilität unserer Demokratie. Dem Vorsitzenden der Fraktion kommt dabei besondere Verantwortung zu. Der Politikwissenschaftler Michael Eilfort hat über dieses Amt einmal festgehalten: „Wenige politische Ämter sind thematisch so breit angelegt und vielschichtig, verlangen so viele Fähigkeiten in einem strukturell besonders schwierigen Umfeld und stellen eine derartige Herausforderung dar.“ Spielräume müssen immer wieder neu errungen werden, erst recht in Regierungskoalitionen. Aber auch Helmut Kohl betrachtete seine Jahre als Fraktionsvorsitzender im Rückblick als „die mit Abstand schwierigsten meines politischen Lebens“ – eine gewichtige Aussage, schließlich hat er im Laufe seines politischen Lebens viele dicke Bretter gebohrt.

Kohl beschrieb diese Zeit ausdrücklich als politische Lehrjahre. Er war überzeugt, ohne Kenntnis der innerfraktionellen Abläufe könne man das Amt des Bundeskanzlers nicht übernehmen, und ich vermute, die amtierende Bundeskanzlerin würde nicht widersprechen. Kohl fügte noch hinzu: Und auch nicht ohne „ein gutes Ohr, um zu hören, wenn Leute in Feinarbeit am Stuhl sägen“.

Taub war der spätere Bundeskanzler ebenso wenig wie naiv. Er wusste um die Bedeutung der inneren Verfasstheit der Fraktion, er wusste Posten zu besetzen und Vertrauen zu gewähren oder zu entziehen – wie es gerade nötig war, um die innere Balance des hochsensiblen Gremiums auszutarieren.

Als ich 1972 Teil der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurde, hatten zum ersten Mal auch die 18-jährigen wählen dürfen. Das Wort des Jahres hieß damals „aufmüpfig“. Der Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel begrüßte uns Parlamentsneulinge vielleicht auch deshalb besonders herzlich – und mit einer klaren Botschaft. Er sagte sinngemäß: „Reden können Sie alle. Was Sie hier lernen, ist zuhören.“

Barzel hatte damit einen sensiblen Punkt getroffen. Denn als Abgeordnete stehen wir alle vor der gleichen Herausforderung, uns einerseits profilieren zu müssen, andererseits uns aber auch den Ansprüchen der Fraktion zu beugen. Wie weit man diesen Spagat treibt, muss jeder für sich entscheiden – zumal nicht nur Fraktionskollegen, sondern auch der Wähler erkennt, wenn es nicht mehr um die Sache geht, sondern das Abweichen von der Fraktionslinie bloßer Eitelkeit folgt und allein um der Schlagzeile willen vollmundig im Interview plaziert wird.

In Artikel 38 Grundgesetz werden die Bundestagsabgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes“ bezeichnet, die „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ seien. Ein Abgeordneter ist eine Art Ombudsmann seiner Wähler, der mit seiner Arbeit und seinen Begegnungen vor Ort diese Wirklichkeit auf die Ebene der Bundespolitik vermittelt. Aber er ist eben immer auch zugleich Vertreter des ganzen Volkes. Dazu müssen wir die Vielzahl von Interessen, Meinungen, Befindlichkeiten mit den Begrenztheiten und der Endlichkeit der Realität zusammenbringen, und das zwingt zu Kompromissen. Ich habe das vor zwei Jahren in meiner Antrittsrede mit einer an Kant angelehnten Maxime beschrieben: Handle stets so, dass das Prinzip Deiner Handlung immer auch das Prinzip der Handlungen aller anderen sein könnte, dass es immer auch allgemeines Gesetz sein könnte. Also: Handle so, dass menschliches Miteinander nicht zusammenbräche, wenn alle so handelten wie Du selbst. Für den Erfolg einer Fraktion ist das jedenfalls keine schlechte Maxime.

Auf Bürgernähe kommt es an, auf Verlässlichkeit. Und darauf, bisweilen mehr Zurückhaltung zu üben, große Dinge anzukündigen, und dafür mehr Kraft darauf zu verwenden, das Notwendige oder sogar Überfällige umzusetzen. So wie die Wahlrechtsreform. Wir kennen doch alle die Klage, dass wir keine Entscheidung mehr zustande bringen. Und jeder von uns spürt, dass es unerträglich ist, wenn vor der Wahl offenbleibt, wie groß der nächste Bundestag sein wird. Jeder weiß auch, dass es nur gemeinsam mit den politischen Konkurrenten gelingen kann – in einem Konsens. Deswegen müssen wir es jetzt endlich angehen. Um zu zeigen, dass wir es in diesem System zustande bringen. Sonst wächst am Ende die Überzeugung bei immer mehr Bürgern, dass das System nichts taugt.

Derzeit erleben wir, dass die parlamentarische Demokratie massiv unter Druck steht. Sie ist einem regelrechten Stresstest ausgesetzt. Nicht nur bei uns, auch in anderen westlichen Demokratien. Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit hat sich in der digitalisierten Welt immens verschärft. Die Gesellschaft ist immer stärker fragmentiert. In der „Krise des Allgemeinen“ liegt aber auch eine Chance für das Prinzip der Repräsentation. Wenn das Parlament ein Ort der Bündelung ist, der Konzentration auf die wichtigen Fragen unserer gesellschaftlichen Zukunft. Dazu braucht es verantwortlich handelnde Akteure, die neben der Vertretung legitimer Interessen ihrer Wähler auch das auszuhandelnde Gemeinwohl im Blick behalten. Und es braucht das Verständnis in der Öffentlichkeit für die Komplexität der Aufgabe, bei der Vielzahl von Interessen, Meinungen und Befindlichkeiten am Ende zu Entscheidungen durch Mehrheit zu kommen, Entscheidungen, die der Bevölkerung das Vertrauen geben, dass ihre Anliegen berücksichtigt werden. Das ist das Prinzip der Repräsentation. Dafür tragen wir alle und die Fraktionen in besonderem Maße Verantwortung.

Womöglich kann uns dabei sogar eine Mammutaufgabe wie die der Nachhaltigkeit helfen. Sie kann uns national und global ein Stück weit voranbringen, wenn wir sie als eine Chance begreifen. Wenn es uns gelingt, die Menschen zu überzeugen, dass darin das Potential liegt, uns auch aus einer gewissen Starre und Saturiertheit zu lösen, in die wir durch Jahrzehnte stetig wachsenden Wohlstands geraten sind. Eine große Aufgabe macht schließlich erfinderisch, sie kann Kräfte mobilisieren und das Vertrauen in uns stärken, Großes leisten zu können, statt uns an das Bestehende zu klammern, weil wir fürchten, Veränderungen nicht gewachsen zu sein. Viele Bürger sind unzufrieden, wir spüren ihren Unmut, auch Überdruss. Den meisten Menschen in unserem Land geht es – den Wirtschaftsdaten nach zu urteilen – gut. Dennoch vermissen sie etwas: Orientierung, ein Ziel.

Über den richtigen Weg dürfen und sollten wir leidenschaftlich streiten, aber dann müssen wir auch zu Entscheidungen kommen – mit Zuversicht und mit einem Anspruch, den Konrad Adenauer einst prägnant so formuliert hat: „Wenn die anderen glauben, man ist am Ende, muss man erst richtig anfangen!“