Rede von Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des Gedenkens an 60 Jahre Luxemburger Abkommen und der Neufassung des sog. Artikel-2-Abkommens mit der Jewish Claims Conference (JCC)



Einleitung

Rabbi Berman, Ambassador Eizenstat, dear Mister Blumenthal, meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“. Dieser Satz des jüdischen Denkers des 17. Jahrhunderts, Baal Schem Tov, ist über dem Eingang der Jerusalemer Gedenkstätte für den Holocaust Yad Vashem eingemeißelt.

Gegen das Vergessen angehen, Erinnerung bewahren – das ist der Sinn dieses Museums, in dessen von Daniel Libeskind entworfenem Glashof wir heute zu Gast sein dürfen. Ich möchte mich, lieber Herr Blumenthal, herzlich bedanken, dass Sie uns diesen beeindruckenden Raum für diese Feierstunde zur Verfügung stellen.

Dieses Jüdische Museum beherbergt – neben zahlreichen Zeremonialobjekten, Münzen und Grafiken – eine Vielzahl von Alltagszeugnissen und Familiendokumenten, in denen sich deutsch-jüdisches Leben in der Vergangenheit und Gegenwart widerspiegelt.

Die Ausstellungsstücke geben auch Zeugnis von der jüdischen Emigration aus Europa während der Herrschaft des Nationalso-zialismus und sie erinnern an die Menschen, deren Heimat Deutschland war und an diejenigen, die ermordet wurden. Und so erzählt das Museum eben auch etwas von dem, was Deutschland durch die nationalsozialistische Barbarei verloren hat.

Würdigung/Einordnung Luxemburger Abkommen

Wir würdigen heute dieses Abkommen, das seit 60 Jahren jüdischen Überlebenden des Holocaust eine Unterstützung zum Lebensunterhalt gibt. Es war damals alles andere als selbstverständlich, dass Adenauer und Ben Gurion diese Absprache zustande brachten. Dabei war es für Israel noch viel schwieriger als für Deutschland.

Nach der Wiedervereinigung wurde es dann 1992 in dem sogenannten Artikel-2-Abkommen auf das ganze Deutschland angepasst. Dabei will ich betonen, dass die erste frei gewählte, parlamentarische Vertretung der Menschen in der DDR in ihrer ersten Sitzung am 18. April 1990, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, als Erstes beschlossen hat, sich entgegen der jahrzehntelangen Praxis der DDR zur Verantwortung für den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen zu bekennen. Und so war diese Resolution der frei gewählten Volkskammer der Ausgangspunkt für die Verhandlungen, die wir dann im Juli begonnen haben und die dann zum Artikel-2-Abkommen geführt haben.

Nun haben Botschafter Eizenstat und Staatssekretär Gatzer dieses Abkommen modernisiert und ich möchte Ihnen beiden und Ihren Mitarbeitern sehr für Ihre Arbeit danken. Ich freue mich, dass wir heute dieses Abkommen unterzeichnen können.

Ich möchte mich auch bei den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag bedanken. Es ist schon gesagt worden, aber ich will es noch einmal sagen: Das, was wir machen, war in der ganzen Zeit, in diesen 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland, die gemeinsame Position aller Parteien und Fraktionen im Deutschen Bundestag. Und aller Regierungen! Ohne die breite Unterstützung, insbesondere der Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags, wäre es für die Regierung auch nicht so einfach, das zu tun, was unsere Pflicht ist.

„Modernisierung“ – das ist ein schreckliches Wort – das will sagen, dass das Abkommen an die geänderten Bedürfnisse der inzwischen hoch betagten und immer weniger werdenden Holocaust-Überlebenden angepasst wurde. Werner Gatzer hat ja über die Einzelheiten berichtet. Es werden weitere 80.000 jüdische Überlebende in Osteuropa hinzukommen, die auf diese Weise erstmals eine Anerkennung ihres Schicksals als Verfolgte und Überlebende erfahren. Für ca. 100.000 pflegebedürftige Survivors werden Leistungen der häuslichen Pflege bereitgestellt, was im Übrigen vor allem eine organisatorische und logistische Herausforderung ist.

Und so gilt mein Dank der Jewish Claims Conference und ihrem Präsidenten, Rabbi Berman. Die Claims Conference war in diesen 60 Jahren Partner Deutschlands bei der Organisation der Hilfe für die jüdischen Opfer des Holocaust. Die Claims Conference hat über das Luxemburger Abkommen hinaus die Entschädigungsgesetzgebung und die entsprechende Rechtsanwendung immer eng begleitet, sie hat Leistungen durchgeführt und sie hat uns immer wieder auf bestehenden Reformbedarf hingewiesen.

60 Jahre Luxemburger Abkommen – Grundstein für besondere deutsch-israelische Beziehungen

Ich sagte es, die Aufnahme der Verhandlungen zum Luxemburger Abkommen war nicht unumstritten. Aber Ben-Gurion und Adenauer haben eben vor 60 Jahren gezeigt, dass selbst über tiefste Gräben Brücken gebaut werden können.

Meine Damen und Herren, der amerikanische Historiker Fritz Stern hat in einer Rede am 17. Juni 1987 von der zweiten Chance gesprochen, die Deutschland bekommen hat. Und man hätte in den vierziger Jahren nicht mehr damit rechnen können. Diese zweite Chance wäre ohne das, was vor 60 Jahren auf den Weg gebracht wurde, an das wir heute erinnern, nicht möglich gewesen.

Und nur so konnte auch damit begonnen werden, zwischen Israel und Deutschland Beziehungen zu entwickeln. Diese Beziehungen sind übrigens keine normalen Beziehungen. Es werden immer besondere Beziehungen bleiben. Die Shoa, der millionenfache Mord, das unermessliche Leid, das Deutsche über deutsche und andere europäische Juden gebracht haben, bleibt Teil unserer Geschichte. Und es bleibt für uns Verpflichtung und Aufgabe – und zwar nicht nur im Gedenken und Erinnern, sondern eben auch in der wachsamen Auseinandersetzung mit allen Formen von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus.

Aber besondere Beziehungen heißt eben auch ein im Laufe der Zeit dichter gewebtes Netz persönlicher Beziehungen, das viele Menschen unserer beiden Länder miteinander freundschaftlich verbindet. Das heißt eine Vielzahl von Städtepartnerschaften, von Austauschprogrammen für Schüler und Studenten, ein intensiver Kulturaustausch und nicht zuletzt eine langjährige, enge Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung.

Und, meine Damen und Herren, es erfüllt uns mit besonderer Freude und Dankbarkeit, dass etwas, was vor Nazi-Terror und Shoa in Deutschland selbstverständlich, und dann nicht mehr zu erwarten war, doch wieder wächst: Jüdisches Leben als ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft.

Ich erinnere mich, Herr Botschafter Hadas-Handelsman, einer Ihrer Amtsvorgänger – ich bin schon ein bisschen länger dabei – der kam 1991 und hat gesagt, Juden aus der damaligen Sowjetunion bräuchten kein Asyl in Deutschland, weil sie ein Heimatland haben. Ich habe damals gesagt, das mag sein, aber wir Deutsche werden darüber nicht entscheiden, sondern wir werden dankbar sein, wenn wieder jüdisches Leben in Deutschland wächst.

Inzwischen sind in immerhin über 100 jüdischen Gemeinden gut 100.000 Gemeindemitglieder aktiv. Siebzig Jahre nach der Shoa werden in Deutschland wieder Rabbiner ordiniert und Synagogen gebaut. Jüdische Kinder besuchen – oft gemeinsam mit Kindern anderer Religionen – jüdische Kindergärten und Schulen. Ja, wir müssen sie immer noch und wieder besonders schützen. Auch das gehört dazu. Und trotzdem, das positive überwiegt. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland gehören zu den lebendigsten in der Welt. Und all dies zusammengenommen bildet eben ein gutes Fundament gegen das Vergessen und für eine gemeinsame Zukunft.

Aber: Um zu verhindern, dass die Erinnerung an das Geschehene verblasst, müssen wir unsere Gesellschaft, vor allem die jungen Generationen in Deutschland und Israel, immer stärker aneinander heranführen, sie gemeinsam lehren, arbeiten und leben lassen. Gemeinsames Lernen, Forschen und Arbeiten von Deutschen und Israelis ist für die Bewahrung der Erinnerung elementar. Denn wir werden ja, bei unserem Bemühen um Erinnerung immer weniger auf das Zeugnis und die Berichte der Überlebenden zurückgreifen können.

Und so bedanke ich mich besonders, dass Sie auch als Vertreter der Überlebenden heute gesprochen haben und dass wir in dem Filmausschnitt sehen konnten, wie sich Leben von hoch betagten Überlebenden heute vollzieht. Und natürlich freue ich mich besonders, dass sich auch Überlebende zu dieser Feierstunde eingefunden haben.

Ich will für Sie alle noch einmal Coco Schumann begrüßen. Ihn habe ich im vergangenen Jahr kennengelernt, als wir im Bundesfinanzministerium eine Veranstaltung hatten. Dieses Gebäude hat auch eine eigene Geschichte. Es ist einmal als Luftfahrtministerium für Göring gebaut worden. Später hat Ulbricht dort jene Pressekonferenz abgehalten, in der er gesagt hat „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, vierzehn Tage bevor sie 1961 gebaut wurde. Wir versuchen gelegentlich, dieses Gebäude mit seiner eigenartigen Architektur und seiner ganz ungeheuer vielfältigen und komplizierten Geschichte ein Stück zu vermitteln und deswegen haben wir eine Veranstaltungsreihe organisiert.

An dem Abend zum Thema „Zwischen Verbot, Vorsicht und Vergnügen – 1933 bis 1945“ hat Coco Schumann mit bewegenden Worten erzählt, wie ihn die Musik vor den Gefahren, denen er als Jude während der Zeit des Nationalsozialismus ausgesetzt war, immer wieder gerettet hat. Und so bin ich froh, auch wenn ich es nicht mehr, oder nur teilweise hören kann, weil ich leider einen Flug erreichen muss, dass uns Coco Schumann gleich im Anschluss mit einem kleinen Konzert noch ein wenig beglücken wird. Wahrscheinlich werden Sie alle, die Sie vielleicht Coco Schumann noch nicht kennen, dann die Bedeutung eines bemerkenswerten Zitates von ihm erkennen. Er hat einmal gesagt: „Wer den Swing in sich hat, oder im Saal steht oder auf der Bühne, der kann nicht mehr im Gleichschritt marschieren“.

Entschädigung kann Geschehenes nicht ungeschehen machen

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

60 Jahre Luxemburger Abkommen sind ein Grund, mit einer gewissen Befriedigung an das gemeinsam für die Überlebenden, aber auch für alle anderen, Erreichte zurückzuschauen. 60 Jahre Luxemburger Abkommen stehen auch für 60 Jahre vertrauensvolle Partnerschaft und Zusammenarbeit aller Beteiligten.

Bei dieser Arbeit für die Opfer der Verfolgung ist allen immer bewusst, dass das grausige Geschehen, das Leid und Unrecht, das über Millionen Menschen gebracht wurde, nicht und niemals ungeschehen gemacht werden kann. Daran ändert keine Entschädigung oder Wiedergutmachung irgendetwas. Auch die meisten Leiden können übrigens höchstens gelindert werden.

Alle Anstrengungen für die Verfolgten und Opfer machen immer wieder deutlich, dass es neben den Hilfen für die Opfer eben auch darum geht, die Vergangenheit und das Leid eines jeden Einzelnen anzuerkennen und zu bewahren – ganz im Sinne der von mir am Anfang erwähnten Inschrift von Yad Vashem.

Bedeutung des Erinnerns für unser demokratisches Gemeinwesen

Es wird bei der Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht keinen „Schlussstrich“ geben können. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig, sondern das brauchen wir vor allem, zu unserer eigenen Selbstvergewisserung als demokratischer Rechtsstaat.
Der amerikanische Philosoph George Santayana hat einmal gesagt, dass die, die sich der Vergangenheit nicht erinnern, gezwungen sind, sie nochmals zu durchleben. So ist es für Nachkriegsdeutschland von großer Bedeutung gewesen, dass wir diese Einsicht ernst genommen haben – nicht immer und schon gar nicht von Anfang an mit voller Überzeugung. Aber das ist so. Traumatisierte Gesellschaften brauchen oft Zeit, Abstand, bis sie sich dem Lauf der Geschichte stellen. Aber mit zunehmenden Abstand haben wir es getan und im Rückblick lässt sich doch sehen, dass und wie der Erfolg der deutschen Demokratie nach dem 2. Weltkrieg durch diese Bereitschaft bedingt war, sich der Erinnerung an die totalitäre Herrschaft der Nationalsozialisten und auch der Frage nach ihren Ursachen und Konsequenzen zu stellen.

Es war schwierig und schmerzhaft, sich den von Deutschen in Deutschlands Namen verübten Verbrechen zuzuwenden. Es war ja kein anonymer „Unrechtsstaat“, sondern die Verbrechen wurden von Menschen verübt oder nicht verhindert. Täter, Mitläufer, Menschen die nichts sehen wollten, um nicht zu viel zu riskieren. Die Bereitschaft, dieser Tatsache ins Auge zu sehen, ist erst allmählich im Laufe der Jahrzehnte gewachsen.

Inzwischen ist der historische Abstand groß geworden. Die Empfindungen, die einerseits die Deutschen und andererseits unsere heutigen Partner in der Nachkriegszeit haben mussten, lassen sich heute kaum noch nachvollziehen.

Wir sind nun mal seit Jahrzehnten eine stabile, auch in Maßen erfolgreiche Demokratie, ein in europäischem Maßstab großes Land. Und daraus folgt eine Verantwortung, die wir wahrzunehmen haben.

Aber deshalb wird das Erinnern an die NS-Zeit und an das in ihr verübte Unrecht nicht weniger wichtig. Es gibt immer noch viele Menschen in aller Welt, die nicht vergessen können, was ihnen oder ihren Eltern oder Großeltern angetan wurde. Das Erinnern bleibt für die deutsche Gesellschaft eine Verantwortung vor den Opfern.

Aber wir müssen eben auch erinnern, um nicht zu vergessen, wie gefährdet freiheitlich-demokratische Ordnung überhaupt sein kann. Das hat nicht nur mit radikalen Kräften zu tun, denen unsere freiheitliche Ordnung ein Dorn im Auge ist, oder die aus welchen Gründen auch immer Angst vor dem anderen haben oder schüren. Sondern es hat auch etwas mit der Eigenart von uns Menschen zu tun, dass wir Dinge, die wir haben, die wir als dauerhaft gegeben ansehen, damit auch gleichzeitig als weniger wichtig einschätzen. Wir nehmen unseren Erfolg schnell als selbstverständlich hin. Die Realität einer zivilen demokratischen Ordnung, in der auch schwere Konflikte durch etablierte politische und rechtliche Prozesse geregelt werden, ist jedoch alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das ist übrigens auch historisch gesehen eher der Ausnahmefall, und wir tun gut daran, insbesondere dann, wenn so häufig von Politikverdrossenheit geredet wird, dass wir uns dieser Tatsache bewusst bleiben.

Die erfolgreiche demokratische Neugestaltung der Bundesrepublik Deutschland ist ein historischer Glücksfall, für den wir dankbar sind. Die Konflikte in aller Welt machen deutlich, wie bedroht Freiheit, Toleranz und Humanität zu jeder Zeit auch heute sind. Sie machen gewahr, dass es unsere bleibende Aufgabe ist, demokratische Rechtsordnung als ein Gut zu pflegen und weiterzuentwickeln. Und dies tun wir am besten, indem wir ihre Möglichkeiten zur Partizipation und zum Wettbewerb der Meinungen wahrnehmen. Demokratie funktioniert nicht dadurch, dass man andere machen lässt. Und die Erinnerung daran kann uns helfen, heute die Bedeutung auch politischen und bürgerschaftlichen Engagements in und für unsere Demokratie zu begreifen.

Schluss

Der frühere israelische Botschafter in Deutschland – ich zitiere heute Ihren Vorgänger – jetzt können Sie ahnen, was Ihnen in der Zukunft noch bevorsteht, Herr Botschafter -, Avi Primor, hat vor einigen Jahren im Rahmen der Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung an der Universität München eine Rede gehalten. Dort hat er die Bedeutung des Erinnerns für uns Deutsche – wie ich finde ganz zutreffend – folgendermaßen zusammen:

„In Deutschland“, so hat Avi Primor gesagt, „können sich die Jugendlichen, die an den Verbrechen der Nazis keinerlei Schuld tragen, von dem Erinnern nicht freimachen. Man kann sich seine Vergangenheit nicht wählen, und die Meilensteine der deutschen Vergangenheit bestehen nicht nur aus Luther, Kant, Goethe, Heinrich Heine, Friedrich dem Großen und so fort. Verantwortung bedeutet nicht Schuld. Verantwortung bedeutet Erinnerung, um die Zukunft gewährleisten zu können“.

Herzlichen Dank!