Rede von Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Buchvorstellung „Wegbereiter der deutschen Demokratie: 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918“ (Hg. Frank-Walter Steinmeier)



– Es gilt das gesprochene Wort –

„Unglücklich das Land, das keine Helden hat“, schreibt Bertolt Brecht im Galilei. Und korrigiert sich gleich: „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“

Wir haben die Helden abgeschafft. Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Nach den schrecklichen Erfahrungen mit einem falschen Heldentum, nach der hysterischen Begeisterung für einen fanatischen Diktator, nach Mord, Krieg und Zerstörung jeglicher Humanität war das in Deutschland geboten.

Seitdem sind wir Deutschen gerade in politischen Zusammenhängen misstrauisch gegenüber Menschen, denen wir besondere Leistungen für unser Land verdanken, die aus dem Durchschnitt der Gesellschaft herausragen, die Großes für Deutschland geleistet haben. Denkmalstürmer waren wir in den ersten Jahren der Bundesrepublik nicht unbedingt, das scheint eher ein heutiges Phänomen zu sein.
Aber wir dachten lange Zeit, es bräuchte auf der politischen Bühne keine singulären Identifikationsfiguren. Wir hätten keine Helden nötig und könnten im Brecht´schen Sinne auch ohne sie glücklich sein.
Mehr noch: Es schien Ausdruck unserer aufgeklärten demokratischen Grundüberzeugung, dass wir Deutschen im öffentlichen, politischen und historischen Kontext bestens ohne heroische Vorbilder auskommen können: vernunftgesteuert, nicht idealistisch, romantisch verklärt oder emotional. Stimmt das, brauchen wir sie wirklich nicht, die Ausnahmepersönlichkeiten, die Strahlkraft und Vorbildcharakter haben? Reichen uns Fußballstars, der eine oder die andere Nobelpreisträgerin oder diverse Showgrößen?

Bei Umfragen in der alten Bundesrepublik bekannten sich die Befragten gern zu mildtätigen, friedfertigen Menschen wie Albert Schweitzer oder Mahatma Gandhi – und gemeinhin wurde das als Fortschritt gesehen. Als Beweis dafür, dass die Bundesrepublik die antimoderne Überhöhung einzelner Führungsfiguren überwunden hat. Zumal solcher, die das Volk nicht nur führen, sondern verführen wollten. In der DDR baute die Staats- und Parteiführung zur selben Zeit gerade wieder neue Heroen auf, Helden des Arbeiter- und Bauernstaates, denen nachgeeifert werden sollte. Man glaubte in der westdeutschen nivellierten Mittelstandsgesellschaft weiter zu sein. Es entwickelte sich ein Individualismus, der jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft größtmöglichen Spielraum zubilligt, nicht aber Heldenstatur.

Schon vor dem Mauerfall wurde deutlich: Die in bester Absicht kollektiv gepflegte Skepsis gegenüber nationaler Überhöhung hatte zur Folge, dass etwas auf der Strecke geblieben war. Es fehlten diejenigen, die für uns moderne Deutsche wirklich zum politischen Vorbild taugen: positive Identifikationsfiguren. Wegbereiter der Demokratie. Menschen, die im wörtlichen Sinn hervorragen und deren Größe darin besteht, dass sie für andere einstehen. Nicht allein im eigenen, sondern im allgemeinen Interesse etwas voranbringen und der Demokratie insgesamt einen Dienst erweisen.
Sie zu würdigen ist wichtig, gerade weil wir Deutschen so lange gebraucht haben, verheerende Kriege und zwei Diktaturen überwinden mussten, bis sich Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durchsetzen konnten. Bis alle Deutsche in einem freiheitlichen Rechtsstaat ankamen.

Sich der jahrhundertelangen Mühe so vieler Menschen unterschiedlicher Denkrichtung auf dem Weg zur Demokratie bewusst zu werden, ist heute nötiger denn je. Geschichtsbewusstsein! Denn unsere Freiheit erscheint – wie unser Wohlstand – vielen allzu selbstverständlich, vielen ist die Fragilität des glücklichen Zustandes, in dem unsere Gesellschaft lebt, nicht bewusst. Damit ist nicht gesagt, dass wir unsere freiheitliche Ordnung und unser Sozial-und Wirtschaftssystem nicht besser machen könnten – im Gegenteil: Auch heute braucht es kluge, weitsichtige Wegbereiter, um den Staat und die Soziale Marktwirtschaft krisenfest zu machen! Denn es sind immer Menschen, die uns voranbringen! Die Schriftstellerin Anne Weber hat es in der diesjährigen Schiller-Rede gesagt: Wir sollten uns vor einem Idealismus hüten, der das Individuum vergisst.

Um drängenden globalen Problemen wie dem Klimawandel zu begegnen, um die Migrationsbewegungen beherrschbar zu machen und um die Artenvielfalt und die natürlichen Ressourcen auf unserem Planeten zu schützen, braucht es Engagement, eine ausgewogene Balance zwischen Idealismus und Realismus. Es sind immer einzelne Menschen, die vorangehen und zeitgemäße Veränderungen initiieren – oder auch nur die richtigen Fragen stellen. Die etwas wagen, wie etwa der jüdische Arzt Johann Jacoby aus Königberg, der im November 1848 dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. gegen alle protokollarischen Gepflogenheiten zurief: „Das ist das Unglück der Könige, dass sie die Wahrheit nicht hören wollen!“ Jacoby ist inzwischen weitgehend vergessen und die Monarchie längst abgeschafft – aber ich bin mir sicher, seinem drängenden Unmut könnte Greta Thunberg, wenn sie von ihm wüsste, einiges abgewinnen. So, wie seine Forderung nach einer „echten Teilnahme des Volkes an der Politik“ auch heute – in ganz anderem Zusammenhang – durchaus Relevanz hat.

Wir merken alle: Unsere Demokratie ist unter Druck. Sie ist nicht mehr unangefochten. Im Innern verliert sie Mitstreiter und wird von Populisten delegitimiert, schlechtgeredet und beschädigt. Und global gesehen muss sie sich in Konkurrenz zu autoritären Systemen bewähren.
Die Krisenfestigkeit unserer westlichen Ordnung wird sich im Vergleich mit China zeigen. In der langen Zeit des Ringens um die Abschaffung der Privilegien des Adels, um Freiheit und Parlamentarismus haben wir ein liberales Verständnis vom Staat entwickelt und in der Verfassung verankert. Der Staat soll das Individuum schützen, die freie Entfaltung jedes Einzelnen garantieren, Daseinsvorsorge treffen.
Das steht dem Kollektivismus asiatischer Prägung gegenüber. Wenn der Staat im Namen eines von ihm selbst definierten Gemeinwohls alles darf, alles kontrolliert und dominiert, kann das dem Wohlstand dienen, der Wirtschaft, auch einer effizierten Pandemiebekämpfung. Aber es ordnet all diese Ziele der Freiheit des Einzelnen unter. Das ist nicht das, was den Wegbereitern der Demokratie vorschwebte!
Die in dem Band erzählten Leben für die Freiheit, für die Gleichheit aller vor dem Recht, für Mitsprache und Emanzipation führen uns vor Augen, wie vielfältig die Lebensläufe, Herkunftsgeschichten und Motive der Frauen und Männer waren, die für unsere Freiheitsrechte kämpften. Die hohe persönliche Opfer brachten. Ihnen allen verdanken wir historische Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie. Und dass in Weimar schließlich der Grundstein für unser parlamentarisches System gelegt werden konnte.
Es ist wichtig, an diese Menschen zu erinnern – und wir sollten ihre Geschichte gerade den Jüngeren an den vielen Orten nahebringen, wo um die Demokratie in Deutschland gerungen wurde. Der Umschlag dieses Buches, ein Bild im Bild, zeigt mit einer Bürgerversammlung im südpfälzischen Landau während der Französischen Revolution einen Schauplatz. Unweit steht das Hambacher Schloss, etwas südlich die Festung Rastatt. Mit der Paulskirche, dem Gendarmenmarkt oder dem Friedhof der Märzgefallen in Berlin, viel später mit Plauen oder Leipzig entsteht eine eigene Topographie der deutschen Demokratie¬geschichte über zwei Jahrhunderte, zu der so viele andere Orte zählen. Unter ihnen, das darf hier nicht unerwähnt bleiben, erst recht nicht von mir: die Stadt Offenburg, wo 1847 im Salmen eine der wichtigsten radikaldemo¬kratischen Versammlungen des Vormärz stattfand – der Beitrag zu Friedrich Hecker erwähnt dieses zentrale Ereignis auf dem Weg zur Revolution, auch wenn das Ortsregister im Buch, warum auch immer, Offenburg nicht auflistet.

In Weimar endet der Band. Natürlich ist 1918 eine Zäsur, aber die Auseinandersetzung ging weiter – und muss auch heute weitergehen. Die Demokratie hat den Charme, dass sie zur Veränderung fähig ist, dass sie sich neuen Bedingungen anzupassen vermag, ihr also auch heute der Weg bereitet werden muss. Es ist gut, dass Sie, Herr Bundespräsident, als unser Staatsoberhaupt mit diesem Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur einen Anstoß geben wollen, den Blick zu weiten. Um neue Kraft zu schöpfen und zu neuen Ideen zu ermutigen, in dem Sie namhafte Autoren versammeln, die Herwegh und Dahlmann, Robert Blum, Hedwig Dohm, Anita Augspurg und all die anderen mutigen Frauen und Männer des Bandes an uns vorbeidefilieren lassen.

Geschichte wird von Menschen gemacht – und wir können froh sein, dass der Blick längst nicht mehr nur auf die große historische Persönlichkeit gerichtet ist, die im Historismus zählte. Wir können auch froh sein, dass wir Geschichte nicht mehr zuerst an den Strukturen und der sozio¬ökonomischen Datenempirie ablesen müssen. Wir erkennen längst wieder Menschen und ihre Schicksale in unserer Geschichte. Frauen und Männer mit Schwächen und Stärken, mit Zweifeln und Idealen.

Nötig sind nicht Helden, aber ihre Geschichten! Wir können in der Rückschau auch Leistungen jener anerkennen, die nur für einen kurzen Moment ins Rampenlicht rückten, Frauen und Männer, die oft gar nicht selbst von ihrem Einsatz für Freiheit, Demokratie oder Gleichberechtigung profitiert haben, die im Hintergrund einen Stein ins Rollen brachten. Es sind nicht unbedingt strahlende Helden oder stolze Vorkämpferinnen. Aber Personen mit einer Wirkmacht über den Tag hinaus. Menschen, in deren Scheitern damals wir heute trotzdem Erfolge sehen! Wie bei den Revolutionären von 1848; oder in den kleinen parlamentarischen Schritten der Liberalen, der Sozialdemokraten und Zentrumspolitiker im Kaiserreich. Wie bei den Frauen, die sich auflehnten und ihre Rechte einforderten, oder den Juden, die als Staatsbürger anerkannt werden wollten. Und nicht zuletzt, viel später, bei den mutigen Bürgerrechtlern, an die Werner Schulz erinnert, der in seinem abschließenden Essay einen großen Bogen von der gescheiterten Revolution von 1848 ins glücklichste Jahr unserer Zeitgeschichte schlägt: 1989!

Das, woran die Paulskirche gescheitert war, Freiheit in Einheit zu schaffen, gelang 1990 – und manche von denen, die in der Diktatur mutig für die Freiheit eingetreten waren, haben das als ein Scheitern empfunden. Dabei war es der Wunsch der überwältigenden Mehrheit, Einheit in Freiheit zu erringen – ein Wunsch, der in der ersten freien Wahl zur Volkskammer und dann im Parlament zum Ausdruck kam; und der im Ausbluten der DDR durch abertausende Übersiedler Fakten schuf. Werner Schulz, den ich sehr schätze, wirbt dennoch für den Gedanken, es hätte ‘89/90 eine neue Verfassung gebraucht, dann wären heute Ost und West einander näher, wir hätten die Erfahrung eines gemeinsamen Neustarts. Ich fürchte allerdings, bei unserem Hang zur Perfektion ständen wir noch heute in dieser Startposition – ohne, dass wir den schmalen Spalt zur Einheit genutzt hätten, den uns Glasnost und Perestroika unter Gorbatschow geöffnet hatten.

Die Geschichte der Demokratie zeigt, Ideen und Werte brauchen einen institutionellen Rahmen, in dem sie sich entfalten können – im Kleinen wie im Großen. Und der Nationalstaat ist noch immer das geeignete Ordnungsprinzip, um Freiheit und Demokratie Geltung zu verschaffen.
Es gehört zur Ambivalenz unserer Geschichte, dass Bismarck vor 150 Jahren diesen nationalen Rahmen nach Außen durch Eisen und Blut schmiedete – und dabei auch nicht davor zurückschreckte, im Innern den Köder des allgemeinen Wahlrechts auszulegen. Die entscheidenden Schritte zur Parlamentarisierung ging Deutschland dann in dem so geschaffenen Kaiserreich voller innerer Widersprüche, wenn auch Jahrzehnte später. Aber Widersprüche begleiten die Demokratiegeschichte seit jeher. Sie begegnen 1776 bei der Erklärung unveräußerlicher Menschenrechte in einer Gesellschaft, die selbst Sklaven hielt. Und wir sehen sie in Frankreich, als sich die Revolution im Krieg der einigenden Kraft der Nation versicherte; als Napoleon die Ideale der Revolution als Kaiser nach ganz Europa trug – und als Eroberer.

Vor diesem Hintergrund wird noch einmal die welthistorische Besonderheit von 1989 deutlich, als die grundstürzenden Veränderungen tatsächlich friedlich gelangen. Glauben wir allerdings nicht, der Ruf „Schwerter zu Pflugscharen“ habe diesen Wandel allein erzwungen. Denn nichts wäre ohne Gorbatschow gegangen, dessen Politik der Öffnung ohne die in den westlichen Demokratien so heftig umstrittene Aufrüstungs¬politik kaum zu denken ist. Und so wird der ehrliche Blick auch auf unsere wechselvolle Demokratiegeschichte immer erkennen lassen, wie Recht Lessing hatte, als er seinen Nathan sagen ließ: „Begreifst Du aber, wie viel leichter andächtig schwärmen als gut handeln ist.“ Die Demokratie basiert auf Ideen und Werten – und es braucht Menschen, die sie hochhalten. Aber es braucht immer auch politische Führung, Entschluss- und Durchsetzungskraft, um ihnen in einem stabilen Ordnungsrahmen praktische Geltung zu verschaffen.
Die hier versammelten Biografien erzählen spannend und aus unterschiedlicher Perspektive von Einigkeit und Recht und Freiheit. In diesem Dreiklang die richtige Balance zu finden, ist und bleibt die Aufgabe, die uns in der Demokratie gestellt ist.