Predigt in der „Friedenskirche“ zu Froeschwiller anlässlich des Jahresfestes des deutsch-französischen Versöhnungsortes „Liebfrauenberg“



6. September 2015

„Diese Kirche, der Liebfrauenberg: Orte der deutsch-französischen Versöhnung und Begegnung, für die wir gar nicht dankbar genug sein können.

Im vergangenen Jahr habe ich die Feste Mutzig in der Nähe von Straßburg besucht: ein eher überraschender Ort der Versöhnung, einst Beton gewordenes Sinnbild der deutsch-französischen Erbfeindschaft, heute deutsch-französischer Begegnungsort. Ein starkes Symbol. Eine wunderbare Umkehrung des ursprünglichen Zwecks der Festung.

Aus deutsch-französischem Gegeneinander ist ein starkes deutsch-französisches Miteinander geworden – seit 70 Jahren herrschen Frieden und Freundschaft zwischen unseren Völkern.

Als Jugendlicher habe ich auf einem Soldatenfriedhof für Gefallene des Ersten Weltkrieges gearbeitet, auf dem Friedhof Bärenstall am Lingekopf bei Munster. Das hat lange in mir nachgewirkt.

Es heißt oft, Europa sei heute mit dem Hinweis auf den Frieden allein nicht mehr begründbar. Spätestens seit dem vergangenen Jahr mit dem Ausbruch des Konflikts in der Ukraine sprechen die Zeitläufe allerdings eine andere Sprache: Konflikte, Kriege und Krisen in und nahe bei Europa sind zurückgekehrt.

Vielleicht muss man also präziser sagen: Europa ist heute mit Hinweis auf die Kriege von 1870/71, 1914-18 und 1939-45 nicht mehr begründbar: Schon mehrere Generationen, auch meine eigene, haben selbst den letzten dieser Kriege gar nicht mehr aktiv erlebt.

Aber die heutigen Krisen und Kriege lehren uns alte Lehren neu. Heute gewinnt Europa als Friedensprojekt wieder spürbar an Relevanz und an Überzeugungskraft. Wir spüren: Frieden und Stabilität sind auch heute keine Selbstverständlichkeit.

Zugleich sind die Anforderungen an Europa durch die Globalisierung und die Digitalisierung völlig anders geworden. Die Probleme dieser Welt werden durch die weltweite Vernetzung rasch und unmittelbar zu Problemen Europas. Deswegen ist Europa heute vor allem als Problemlöser gefragt. Darauf kommt es an. Das heißt aber auch, dass die Anforderungen an Europa immens gestiegen sind.

Nur wenn Europa es schafft, die nötigen Antworten zu finden und die Probleme zu lösen; nur wenn Europa sich heute bewährt – können wir unsere Art zu leben, bewahren. Ganz konkret heißt das: unser alltägliches Leben in einer freien und selbstbestimmten Gesellschaft, und unser Gesellschaftsmodell der Verbindung von Menschenrechten, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung und repräsentativer Demokratie, sozialer Stabilität und ökologischer Nachhaltigkeit.

Nur wenn es Europa gelingt, das alles in diesem 21. Jahrhundert für die Zukunft zu bewahren, bleiben wir auch für uns selbst attraktiv und können unsere demokratischen Gesellschaften stabil halten.

Unsere großen Probleme kann Europa nur gemeinsam lösen – Probleme, die wir uns selbst geschaffen haben, wie die Schulden- und Wirtschaftskrise im Euroraum, und Probleme, die aus der Welt auf uns zukommen und die sich ausdrücken auch in den großen Flüchtlingsbewegungen dieser Zeit.

Wir haben seit dem Ende des Kalten Krieges leider keinen weltweiten Siegeszug von Demokratie, Frieden und Freiheit erlebt, kein Ende der Geschichte, wie manche glaubten. Vielmehr ist die Geschichte zurückgekehrt – mit alten und mit neuen Problemen.

Nicht-demokratische Herrschaft hält sich zäh, oft in neuem Gewand; in China in den letzten Jahren gepaart mit wirtschaftlichem Erfolg, wenn auch im Moment mit Schwierigkeiten.

Russland stellt sich unter seiner gegenwärtigen Regierung immer offener in die Reihe der Kräfte dieser Welt, die die Werte und damit die Lebensweise und das Gesellschaftsmodell Europas, des Westens in Frage stellen.

Viele alte Konflikte, wie der im Nahen und Mittleren Osten zwischen Israelis und Palästinensern, scheinen nicht enden zu wollen. Von vielen Regionen Asiens und Afrikas gehen Gefahren aus für Frieden und Stabilität.

Wenn man das kaum noch zu entwirrende Durcheinander von religiösen und fundamentalistischen Konflikten, von politischen und wirtschaftlichen Interessen sieht, fühlt man sich an das Entsetzen des Dreißigjährigen Krieges erinnert.

Und die schroffe Ungleichzeitigkeit unseres Erlebens verschärft das noch: hier globalisierte Eliten und Lebenswelten, dort Kämpfer für neue Kalifate.

Auch die Gleichzeitigkeit großer Ungleichheit in der Welt vermehrt die Konflikte: die Ungleichheit in den Schwellenländern, aber auch etwa in den Vereinigten Staaten.

Diejenigen, die unsere europäischen, westlichen Werte in Frage stellen, interpretieren das als Verfallserscheinungen der westlichen, industrialisierten Welt und unserer Lebensweise. Das wiederum steigert die Verführbarkeit der Menschen durch religiöse Ideologien wie den Islamismus. Hinzu kommen innerreligiöse Auseinandersetzungen in der islamischen Welt selbst.

Der Islamismus bleibt auch für uns bedrohlich. Er ist bis in unsere europäischen Gesellschaften vorgedrungen – mit all seiner schockierenden Gewalt, zuletzt in Frankreich und Dänemark.

Die Liste der Probleme und Herausforderungen, die sich Europa stellen, lässt sich noch verlängern: Die Auswirkungen des Klimawandels und beunruhigende Krankheitsepidemien. Die neuen Kommunikationstechnologien, deren Auswirkungen auf unser Leben und unsere überlieferten Ordnungen wir erst zu ahnen beginnen. Schließlich neben all dem die Pluralisierung unserer Gesellschaften, vorangetrieben von Globalisierung und Migration, die vielen vieles abverlangt.

Andererseits sind all diese schwierigen Fragen, und gerade in diesen Monaten die Herausforderung durch die großen Flüchtlingsbewegungen, für Europa auch eine große Chance: eine Chance zu neuer Ernsthaftigkeit; heilsam für Europa, wenn wir uns auf das Eigentliche und Wichtige konzentrieren.

Gegenüber all den genannten Herausforderungen handeln Frankreich und Deutschland heute gemeinsam: bei der Stabilisierung unserer Wirtschafts- und Währungsunion, in der Ukraine-Krise, jetzt auch in der Flüchtlingskrise.

Das ist wichtig, reicht aber trotzdem heute nicht aus. Dass zwei Nationen führen, ist nicht europäisch gedacht: Europa besteht aus 28 gleichberechtigten Staaten. In diesem Europa kann und soll keiner führen. Europa bedeutet das gleichberechtigte Miteinander der Staaten. Es müssen alle gemeinsam handeln.

Unübersichtlich, krisenhaft, verstörend, gewalttätig – so ist die Menschheitsgeschichte, und so war sie immer. Dennoch oder gerade deswegen heißt es: „Selig sind die Friedfertigen.“ (Matthäus 5,9) Und: „Dass Güte und Treue einander begegnen, dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen.“ (Psalm 85,11)

Wir Christen wissen selbst, dass wir nicht immer so sind, nicht immer so handeln, wie wir es nach der Bergpredigt sollten. Vielleicht können wir aber gerade deswegen, im Wissen um unsere eigene Unvollkommenheit, uns besonders gut der Unvollkommenheit der Welt stellen.

Wir Christen wissen: Der Mensch ist von Gott zur Freiheit in Verantwortung befähigt, aber er ist fehlbar. Der Mensch ist verantwortlich, aber nicht allmächtig. Wir Menschen sind hier nur für die vorletzten Dinge zuständig.

Dieses christliche Wissen um die Begrenztheiten, Vorläufigkeiten, Unvollkommenheiten des menschlichen Lebens, das Wissen, dass die Menschen vielbegabt, aber leider auch in der Sünde verfangen sind, dass sie fehlbar sind, und deswegen auch alle ihre hochfahrenden Pläne und Absichten eben allzu oft genau das sind: hochfahrend – dieses Wissen ist eine gute Grundlage für realistisches Handeln, auch für eine unideologische, pragmatische, menschenwürdige Politik.

Im Grunde geht es um Demut und Respekt: um Haltungen, die Politik bescheidener, und gerade deshalb vielleicht tragfähiger und nachhaltiger machen.

Politik, so verstanden, versucht, im notwendig Unvollkommenen doch etwas Gutes zu schaffen. Schritt für Schritt, Irrtümer begehend und korrigierend, vorsichtig tastend, ohne große Schneisen zu schlagen, ohne große Sprünge zu tun und ohne aufs Ganze zu gehen. In der Politik aufs Ganze zu gehen, hat schon viel Leid über viele Menschen gebracht.

Die Kraft zur freiheitlichen Gestaltung ist uns gegeben. Wir haben keinen Grund zum Verzagen. Gerade weil die letzten Dinge nicht in unserer Hand liegen, und wir den Himmel nicht auf Erden erwarten, sind wir als Christen in der Lage, in dem Rahmen, der uns gegeben ist, verantwortlich zu handeln und die Welt zu gestalten, unseren christlichen Werten folgend, und in Zuversicht – wie widrig die Zustände in der Welt auch immer sind. Es gibt keinen Grund, unseren Beitrag nicht zu leisten.

Es gibt aber auch keinen Grund zur Überheblichkeit. Europas Stellung in der Welt ist nicht so – und auch nicht die des Westens insgesamt, schon gar nicht mit Blick auf unsere Geschichte –, dass wir mit erhobenem moralischem Zeigefinger viel gewinnen. Es gab und gibt immer wieder eine Kluft zwischen unseren Werten und der politischen Praxis. Umso ernster sollten wir unsere Mitverantwortung für neue Ordnungen in der globalisierten Welt nehmen.

Frieden und Freiheit bewahren, Konflikte gewaltfrei und nach Regeln auszutragen, das Verständnis einer Schicksalsgemeinschaft in dieser sich so schnell verändernden Welt der Globalisierung und der Digitalisierung zu schaffen, das lohnt unsere Mühen.

An der Gestaltung dieser Welt mitzuwirken, neue Ordnungen in unserem Sinne mitzuschaffen, ist allerdings kein natürliches Vorrecht Europas und des Westens. Sondern dafür müssen wir in guter, in global überzeugender politischer und wirtschaftlicher Verfassung sein.

Wir sind uns zwar sicher, dass Marktwirtschaft auf Dauer nur in Demokratie, Rechtsstaat, mit sozialen Rechten und in ökologischer Verantwortung funktioniert. Aber diese Systemfrage ist in unserer Zeit und für diese Welt noch nicht für alle abschließend beantwortet. Um aufstrebende Volkswirtschaften davon zu überzeugen, müssen Europa und der Westen auch wirtschaftlich eine Erfolgsgemeinschaft bleiben. Ohne wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit wird die Besinnung auf unsere Werte nicht reichen, andere dafür zu gewinnen.

Und was die Überzeugungskraft unserer Werte an sich angeht, bin ich nicht so skeptisch: Unsere Werte sind attraktiv. Wir haben es in Hongkong gesehen. Wir haben es in der Türkei gesehen. Die arabischen Gesellschaften machen sich auf den Weg. Ja, es dauert, und es geht nicht geradlinig, aber das ging es noch nie in der Geschichte.

Und wo wir im Westen an uns zweifeln, uns selbst heftig kritisieren, da ist gerade die heimliche Stärke unserer Gesellschaften am Werk. Der Philosoph Karl Popper hat in seinem Buch über die „offene Gesellschaft“ 1945 gezeigt, dass freiheitliche Ordnungen genauso mit Fehlern behaftet sind wie unfreie, aber dass ihre Überlegenheit darin gründet, dass sie Fehler korrigieren können. Totalitäre Ideologien können das nicht. Deswegen scheitern sie früher oder später.

Dass wir in Europa aus Fehlern lernen können, dafür ist der allerbeste Beweis die deutsch-französische Aussöhnung, Freundschaft und Zusammenarbeit, die wir hier und heute einmal mehr erleben und für die ich sehr dankbar bin.“