Noch nicht über den Berg – Zur Krise in der Eurozone



Rede bei der Stiftung Ordnungspolitik am 11. Juli 2014 in Freiburg im Breisgau

„Die Stiftung Ordnungspolitik ist ein guter Ort, um über Grundfragen der europäischen Einigung und des Euro, über die Probleme und die Lösungsmöglichkeiten zu sprechen. Ordnungspolitik ist nach dem Verständnis der Freiburger Schule keine Anmaßung von Wissen, keine Vorgabe von Inhalten, sondern die Arbeit an freiheitsgemäßen Regeln und an einer Ordnung, in deren Rahmen sich die Ideen und Fähigkeiten der Menschen optimal entfalten können – und Markt und Wettbewerb ihre wohlstandsfördernde Wirkung.

Für mich ist Ordnungspolitik vor allem auch eine realitätsbezogene Politik – bezogen immer auf die Realität des Menschen und auf die Realität seiner – unserer – Lebenswelt.

Ich denke dabei an Karl Popper, der am Genfer See unter den Gründern der „Mont Pèlerin Society“ war. Ich denke an sein „piecemeal engineering“, daran, dass man sich tastend voran bewegt, nach dem Prinzip „trial and error“ die Wirklichkeit kennen lernt und die Regeln so gestaltet, dass sie zum Menschen und zur immer wieder neuen Lage passen.

Wir haben viele Ideologien gehabt, die alle allerdings ein Problem hatten: Dass die Menschen so dumm waren, sich nach ihnen zu verhalten. Das endet dann immer im Totalitären.

In unserem 21. Jahrhundert sind die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung oder die enorme Revolution in allen Lebensbereichen durch die IT-Kommunikation und damit verbunden die Beschleunigung des Wandels in allen Lebensbezügen.

Weil wir in dieser Welt leben, ist die europäische Einigung notwendig. Die Begründung allein mit dem Argument des Friedens ist für die jüngeren Generationen kaum noch nachvollziehbar. Wir werden in dieser Welt des 21. Jahrhunderts als Europäer – wir sind nicht einmal mehr 10 Prozent der Weltbevölkerung – nur dann für unsere Werte und unsere Überzeugungen wirkungsvoll eintreten können, wenn wir unsere Fähigkeiten bündeln.

Und wir werden es nur schaffen, neue globale Ordnungsfragen – wir hängen in allem immer mehr von Entwicklungen in allen Teilen der Welt ab, ob uns das gefällt oder nicht – im europäischen Sinne mit beantworten zu können – alleine entscheiden können wir Gott sei Dank nicht mehr –, wenn wir es gemeinsam tun.

Deswegen ist übrigens auch der Euro unverzichtbar. Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten in den Krisen der letzten Jahre keine gemeinsame europäische Währung gehabt.

Es war übrigens interessant zu sehen, dass selbst die stärksten Euro-Skeptiker vor der Europawahl gar nicht mehr so laut die Abschaffung des Euro gefordert haben. Weil sie inzwischen erkannt haben: Die wirtschaftlichen Folgen für uns alle wären dramatisch, völlig unabsehbar.

Eigentlich bräuchten wir eine richtige Bündelung der Kräfte in Europa im Sinne einer echten Politischen Union. Und ich erinnere gelegentlich daran, dass die Bemühungen um die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg ja auch so begonnen haben. Europäische Verteidigungsgemeinschaft hieß das Projekt. Das ist 1954 in der französischen Nationalversammlung nicht zustande gekommen. Die Völker Europas waren damals noch nicht bereit, soviel Zuständigkeit von den Nationalstaaten an Europa abzugeben.

Und da eine solche Politische Union nicht möglich war, hat man sich auf die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit konzentriert. Dafür war Legitimität gegeben. Legitimität in dem Sinne, dass die davon betroffenen Völker damit einverstanden waren, weil sie die damit verbundene Wohlstandsmehrung unterstützt haben. Dahinter lag die Hoffnung, dass Erfolge im wirtschaftlichen Bereich dann auch Fortschritte in der politischen Integration in der Zukunft nach sich ziehen würden. Das ist der zugrundeliegende Gedanke beim Prinzip der „ever closer union“, also dass man in Europa die europäischen Institutionen durch immer weitere wichtige Schritte in Richtung mehr Integration weiterentwickelt. Dieser richtige Grundgedanke besagt, dass man in den Bereichen, wo die Menschen einverstanden sind, Fortschritte erzielt – dann werden in Zukunft auch weitere Integrationsschritte folgen.

Die Fortschritte in der Integration waren in den letzten 60 Jahren oft kleinteilig. Und sie banden oft auch nicht von Anfang an alle Mitgliedstaaten ein. So auch beim Schengen-Abkommen. Da ist damals auch gesagt worden: „Was soll denn das?“ Aber mit Schengen hat man angefangen, die Grenzkontrollen nach und nach abzuschaffen. Und bei der Währungsunion ist man genau nach demselben Prinzip verfahren: „Lasst uns mal anfangen.“ Daneben haben wir oft – worüber sich alle beklagen, die sich mit Europapolitik beschäftigen – intergouvernementale Vereinbarungen, Regierungsvereinbarungen, getroffen. Meistens oder oft sind keine Änderungen des europäischen Primärrechts zustande gekommen, weil dies furchtbar schwierig ist. Da muss man die europäischen Verträge ändern, man muss die Änderungen ratifizieren, und das bei 28 Mitgliedstaaten – und das geht nur einstimmig. Intergouvernementale Vereinbarungen sind nicht einfach, schon gar nicht beliebt, weder bei der Europäischen Kommission noch beim Europäischen Parlament, und auch das Verfassungsgericht schaut da ganz genau hin.

Und so erscheint das europäische System natürlich kompliziert. Darüber kann man trefflich spotten und klagen, aber wenn man sich im Rückblick über etwas längere Distanz die Dinge anschaut, dann hat man so viele Fortschritte in diesen 60 Jahren erreicht, die man gar nicht für möglich gehalten hätte.

Weil die große Lösung nicht auf einmal erreichbar war, wurde immer der nächste mögliche Schritt getan. Das war so auch nach dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung in den neunziger Jahren beim Streit um Erweiterung oder Vertiefung der Europäischen Union. Ich habe damals zusammen mit Karl Lamers gesagt, wir brauchen erstens einen Verfassungsvertrag für die Europäische Gemeinschaft und wir müssen zweitens angesichts der unterschiedlichen Bereitschaft zur Integration in den einzelnen europäischen Staaten flexibel sein im Vorangehen. Zugleich brauchen wir einen festen Kern, um die europäische Integration voranzubringen – auch wenn wir flexibel vorangehen.

So war das auch bei der Schaffung der Währungsunion. Natürlich haben uns viele Ökonomen gesagt, dass eine Währungsunion eigentlich – wenn sie funktionieren soll – eine einheitliche Wirtschafts- und Finanzpolitik erfordert. Sonst würde die Geldpolitik überfordert. Aber den Streit „Politische Union vor Währungsunion oder umgekehrt“ würden wir heute noch führen. Deswegen haben wir gesagt: Fangen wir mit der Währungsunion an und machen einen Stabilitätspakt, mit dem wir Regeln vereinbaren, an die sich jeder hält. Aber leider haben Deutschland und Frankreich den Pakt dann 2003 beschädigt. Das halten uns die anderen Mitgliedstaaten übrigens immer wieder vor. Wir vergessen es gern, aber so war es.

Das hat zunächst noch gar nicht so viele Auswirkungen gehabt. Manche glauben, wir wären deswegen in den letzten Jahren so erfolgreich gewesen. Das ist eine ziemliche Verkennung der Zusammenhänge, bei allem Respekt. Zunächst hat es nicht so furchtbar geschadet, aber dann kam die Finanz- und Bankenkrise nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. In dieser Finanzkrise haben die Finanzmärkte plötzlich gemerkt: „Oh Gott, was ist das in Europa für eine komische, komplizierte Struktur, das kann ja nicht funktionieren.“ Vorher hat das die Finanzmärkte gar nicht gestört und die „spreads“, die Zinsdifferenzen zwischen den Mitgliedstaaten, waren zwischen Griechenland und Deutschland gar nicht so groß. Daraus kann man gewisse Schlussfolgerungen ziehen, was die Verlässlichkeit von Marktbeurteilungen durch die Finanzmärkte anbetrifft – aber es nützt nichts, sie bleiben so volatil, wie sie sind.

Und so war die Eurokrise Folge der Fehler der einzelnen Mitgliedstaaten. Aber sie war eben auch die Folge des geschwundenen Vertrauens der Märkte in die Konstruktion dieser europäischen Währungsunion insgesamt.

Die Krise musste also bekämpft werden durch die Entschlossenheit der Mitgliedstaaten, die Stabilität des Euro unter allen Umständen zu wahren. Heute wird nur noch von der EZB und der Londoner Rede ihres Präsidenten Draghi vom Juli 2012 gesprochen. Aber davor war die Forderung, Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy müssten erklären, dass Frankreich und Deutschland unter allen Umständen zum Euro stünden. Das haben Merkel und Sarkozy dann auch getan. Und dann mussten wir natürlich Ländern, die unter Marktdruck standen, durch europäische Solidarität Zeit verschaffen, Zeit zur Lösung ihrer Haushalts- und Wettbewerbsfähigkeitsprobleme. Und gleichzeitig mussten wir das europäische Regelwerk durch gemeinsame Parameter für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten, nachdem es 2003 zerstört worden war, reparieren und besser, effizienter ausgestalten, als es 2003 gewesen war.

Das sind die drei Elemente, mit denen wir die Eurokrise bis heute erfolgreicher bekämpft haben, als alle vorhergesagt haben, mit allem Respekt: Die durchschnittliche Neuverschuldung der Euroländer ist in der Zwischenzeit halbiert, die Spannweite in der Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls, weil eine Reihe von Ländern tiefgreifende Strukturreformen durchgeführt hat. Von den insgesamt fünf EFSF- und ESM-Programmen sind drei schon erfolgreich abgeschlossen – Irland, Spanien, Portugal. Und die beiden übrigen sind im Fahrplan: Griechenland ist mit Abstand der schwierigste Fall, aber sowohl die Wirtschafts- als auch die Haushaltsentwicklung sind dort besser als die Annahmen, die wir bei der Verabschiedung des zweiten Hilfsprogramms Ende 2012 zugrunde gelegt hatten. Das fünfte Programmland ist Zypern, das wissen viele schon gar nicht mehr, weil es so erfolgreich ist, wie man es sich nicht vorstellen konnte.

Die Konditionalität der Hilfen einschließlich ihrer Überwachung durch die Troika als Hilfe zur Selbsthilfe hat funktioniert. Die Programmländer sind im OECD-Vergleich die mit den größten Fortschritten bei Strukturreformen.

Auch das Vertrauen der Finanzmärkte in die Stabilität des Euro ist wiederhergestellt. Wir haben eher zu viel Kapitalzufluss nach Europa als zu wenig. Die Zinsdifferenzierung zwischen den Mitgliedstaaten ist dementsprechend auf ein akzeptables Maß zurückgegangen.

Zum Stabilisierungsmechanismus kommt das verbesserte Regelwerk von Haushaltsüberwachung und Wirtschaftskoordinierung hinzu – Sixpack, Twopack, europäisches Semester, länderspezifische Empfehlungen, Fiskalvertrag – und jetzt vor allem die Bankenunion, um den Finanzsektor als Lehre aus der Bankenkrise zu stabilisieren und um die Risiken von Staatsverschuldung einerseits und Bankbilanzen andererseits als Lehre aus der Eurokrise voneinander abzuschotten.

An all dem muss weiter gebaut werden. Und immer geht es dabei um die ordnungspolitische Grundfrage, die Anreizsysteme so zu gestalten, dass sie die richtigen Anreize setzen und Fehlanreize vermeiden. Angelsächsisch ausgedrückt ist das die Vermeidung der „Moral Hazard“-Problematik.

Entscheidung und Haftung müssen in einer Hand sein. Wer Entscheidungsverantwortung hat, muss für die Folgen seiner Entscheidung auch selber haften und darf sie nicht auf andere abwälzen können. Nur dann werden Entscheidungen so getroffen, dass sie nachhaltig funktionieren.

Reformen für bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen statt immer neuer Schuldenprogramme – auch darum geht es in der aktuellen Debatte. Es besteht europäisch und international Einigkeit, dass strukturelle Reformen, permanente Bemühungen, wettbewerbsfähig zu bleiben, vor allem auch die Verbesserung institutioneller Rahmenbedingungen, also Funktionsfähigkeit von Justiz und Verwaltung, notwendig sind. Das ist in der globalisierten Wirtschaft von entscheidender Bedeutung für Investitionen. Daran muss immer gearbeitet werden, weil sich der Wettbewerb in der globalisierten Wirtschaft unglaublich weiterentwickeln und eben nicht nachlassen wird.

Und diese permanenten Bemühungen werden nun leider nicht durch größeren Spielraum bei der Defizitreduzierung gefördert. Das liegt wiederum daran, dass wir Menschen sind, wie wir sind. Und deswegen ist es eine alte Erfahrung, dass jede demokratisch legitimierte Autorität im Zweifel dazu tendiert, kurzfristige Zustimmung gegenüber Nachhaltigkeit zu präferieren. Dafür muss man nicht nur Politiker kritisieren, wenn sie sich um Wählerstimmen bemühen. Demokratie hat sich nun einmal um Mehrheiten zu bemühen. Übrigens würden Unternehmen pleitegehen, wenn sie nicht kurzfristig auf Kunden achten würden. Aber Ordnungspolitik muss wissen, dass nachhaltige Entscheidungen nur gefördert werden, wenn man nicht bequemere Alternativen zur Verfügung stellt. Deswegen dürfen wir den europäischen Staaten keinen Ausweg bieten, notwendige Strukturreformen vielleicht zu versprechen, sie aber dann nicht umzusetzen.

Das gilt auch für die Geldpolitik. Die EZB wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass Strukturreformen unerlässlich sind. Geldpolitik kann Zeit verschaffen für Reformen, aber sie nicht ersetzen. Deswegen ist es so wichtig, dass es beim beschränkten Mandat der EZB bleibt. Global haben wir die Diskussion, ob die Geldpolitik der EZB auf Geldwertstabilität beschränkt sein sollte, oder ob sie nicht – wie die Federal Reserve oder die Bank of England – auch für Wachstum und Vollbeschäftigung verantwortlich sein sollte. Aber wenn in der Eurozone, in der nur die Geldpolitik institutionell vergemeinschaftet ist, die Notenbank auch für Wachstum und Vollbeschäftigung Verantwortung tragen würde, würde sie nicht verhindern können, dass sie zum Ausweichen vor notwendigen finanz- und wettbewerbspolitischen Entscheidungen in den Mitgliedstaaten missbraucht werden würde. Und deswegen muss es beim begrenzten Mandat der EZB bleiben.

Das heißt allerdings nicht, dass ich in der aktuellen Diskussion der Geldpolitiker untereinander – also beispielsweise zwischen Internationalem Währungsfonds und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der Notenbank der Notenbanken – die Meinung teile, die vorrangige Aufgabe der Geldpolitik sei es, den schmalen Grat zwischen Inflations- und Deflationserwartungen zu halten, also die reine Preisstabilität. Sondern ich glaube, die Notenbanken haben auch die Verantwortung, Blasenbildungen auf Immobilien- oder Aktienmärkten durch ein Übermaß an Liquidität entgegenzuwirken.

Ich kenne die Argumentation, dass dies Aufgabe der nationalen Aufseher und Regulierer sei. Natürlich müssen Finanzaufsicht und staatliche Regulierung versuchen, spekulativen Übertreibungen entgegenzuwirken. Das machen wir mit unserer Finanzmarktregulierung, wo immer wir können. Aber mein ordnungspolitisch begründetes Denken führt zu der Einsicht, dass die Innovationskraft der Menschen bei der Umgehung jeder Regulierung – das kennt auch der Steuerrechtler – immer größer ist als die Fähigkeit der Regulierer, dem präventiv vorzubeugen. Deswegen können wir zur Vermeidung oder zur Bekämpfung neuer Blasen auf die Begrenzung der Geldmenge nicht verzichten, wenn wir nicht wieder auf die nächste Krise zusteuern wollen, von der wir im Voraus nicht wissen, wann und wo sie beginnt.

An ordnungspolitischen Prinzipien haben wir uns auch beim Aufbau der Bankenunion orientiert: Wir haben jetzt ordnungspolitisch vernünftige europäische Regeln zur Gläubigerbeteiligung und zur Bankenabwicklung mit einem von den Banken selbst zu finanzierenden Fonds. Künftig können strauchelnde Banken nach klaren Regeln abgewickelt werden. Haften werden zunächst die Eigentümer, Bankgläubiger und Großeinleger, auch die Manager, dann der Bankensektor als Ganzes im Sinne einer Solidarhaftung.

Dazu gibt es einen Fonds, der durch die Abgaben der Banken gespeist wird. Für die Erhebung dieser Abgaben hat die Europäische Union ohne Vertragsänderung keine Kompetenz, deswegen müssen die einzelnen Mitgliedstaaten für die Erhebung der nationalen Abgaben haften. Das war einer der großen Streitpunkte bei der Diskussion auf europäischer Ebene. Viele meiner Kollegen wollten es anders. Aber wir haben uns darauf geeinigt, dass jeder Mitgliedstaat auf nationaler Ebene seine Bankenabgabe erhebt. Deswegen ist sichergestellt: Es gibt keine gemeinsame Haftung der europäischen Staaten für die Banken insgesamt. Sie ist nach diesen Regeln ausdrücklich ausgeschlossen.

Da ich gerade von einem bedeutenden Ökonomen etwas anderes in der Zeitung gelesen habe, habe ich gedacht, mangelnde Sachkenntnis ist natürlich günstig zur Aufrechterhaltung eigener Vorurteile – es ist trotzdem falsch.

Der Zugang zum Europäischen Stabilitätsmechanismus bleibt eindeutig und klar begrenzt. Es gibt keinen Zugang zum ESM mit seinen 500 Milliarden Euro ohne einen Antrag des Mitgliedstaates und ohne die Vereinbarung eines Reformprogramms, also Konditionalität. Das ist der eigentliche Punkt. Den ESM hatten wir gegründet als einen Fonds, den wir gar nicht brauchen wollen, sondern zum Zwecke der Prävention, um die Finanzmärkte zu überzeugen, dass notfalls genügend Mittel vorhanden sind. Deswegen bin ich froh, dass er nicht in Anspruch genommen wird. Das Volumen von 500 Milliarden Euro ist bisher kaum belegt. Und inzwischen hat sich herumgesprochen: Die Konditionalität ist nicht das Schönste für die Mitgliedstaaten. Deswegen ist der Drang nach Mitteln aus dem ESM enorm zurückgegangen. Das zeigt: Wir sind genau auf dem richtigen Weg.

Neben einer klaren Haftungskaskade haben wir Restrukturierungs- und Abwicklungsregeln geschaffen, die das „too big to fail“-Risiko künftig ausschließen sollen. Für die systemrelevanten Institute schaffen wir bei der Europäischen Zentralbank eine europäische Bankenaufsicht, die in Zeiten globalisierter Finanzmärkte und globalisierter Marktteilnehmer besser als nationale Aufseher funktionieren kann.

Natürlich müssen weitere Schritte folgen: Auf G20-Ebene arbeiten wir mit Hochdruck an der Regulierung des Schattenbankensektors. Denn je besser wir den Bankensektor regulieren, umso mehr gibt es Ausweichreaktionen in den Schattenbankensektor. Und mittelfristig – da stimme ich auch mit dem Präsidenten der Deutschen Bundesbank völlig überein – müssen wir allmählich zu einer risikoadäquaten Kapitalunterlegung auch von Staatsanleihen kommen, um die Versuchung zu verringern, über die Bankbilanzen die Staatsverschuldung zu finanzieren.

Ich betrachte auch die Diskussion um einen angeblich zu starken Euro mit Sorge. Auch hier gilt immer die Warnung Hayeks vor der „Anmaßung von Wissen“. Wettbewerbsfähigkeit durch Wechselkursmanipulation zu ersetzen hat übrigens noch nie zu nachhaltigem Wachstum geführt. Das kann kurzfristig helfen, aber nachhaltiges Wachstum schafft es nicht. Deswegen sollte man nicht den Ausweg über eine Abwertung der Währung suchen.

Da ich weiß, wo ich gerade spreche, auch ein Wort zu dem Vorschlag, Länder in Schwierigkeiten sollten aus dem Euroverbund zeitweilig ausscheiden und über die Abwertung ihrer Währung ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Das Risiko des Ausscheidens einzelner Euromitglieder für das Marktvertrauen in die Stabilität der Eurozone als Ganzes scheint mir bei dieser Überlegung bei Weitem unterschätzt. Deswegen glaube ich, dass dieser Vorschlag nicht verwirklicht werden sollte. Wir haben das bei Griechenland ein paar Mal diskutiert und wir haben Griechenland und Zypern vor die Alternative gestellt. Aber man muss es klar sehen: Wenn die Finanzmärkte nicht sicher sind, dass der Euro bleibt, würden wir ganz schnell Volatilitäten bekommen und deswegen würde ich diesem Vorschlag nicht gerne folgen.

Das spricht eher für die Überlegungen von Professor Fuest vom ZEW in Mannheim und anderen, weil oder solange eine Politische Union auch für die Eurozone nicht erreichbar sei, also keine institutionelle, vergemeinschaftete Finanz- und Wirtschaftspolitik möglich sei, müsse für die Euromitglieder eine Restrukturierungs- und Insolvenzordnung geschaffen werden. Dazu braucht man einen langen Vorlauf, denn bei den jetzigen hohen Verschuldungsgraden würde das zu viel Verunsicherung in die Märkte bringen. Aber eher in die Richtung dieses Vorschlags als die Möglichkeit eines zeitweiligen Ausscheidens aus der Währungsunion; dies würde auf den Finanzmärkten – davon bin ich überzeugt – kein Vertrauen finden.

Klar ist jedenfalls: Solange und soweit Entscheidungen nicht vergemeinschaftet sind, darf es auch die Haftung nicht werden. Deswegen gilt: Ohne institutionelle Änderungen auch keine Eurobonds, sondern wie bisher mit Erfolg: Hilfe zur Selbsthilfe unter strikter Konditionalität.

Bei allen Erfolgen wäre es falsch, wenn wir in Europa glaubten, wir seien über den Berg. Schuldenstände sind immer noch zu hoch, in zahlreichen Ländern auch die Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit. Dringend notwendige Reformen sind in wichtigen Ländern immer noch nicht ausreichend umgesetzt – was übrigens nicht heißt, dass nicht alle Länder für die Zukunft auch weiterhin Strukturreformen angehen müssen. Niemand kann sich jemals auf dem Erreichten ausruhen. Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Es ist falsch zu glauben, uns ginge es so gut, dass wir uns gemütlich zurücklehnen könnten. Das würde wirtschaftlich schief gehen.

Deswegen muss jetzt gelten: Die gehärteten Regeln werden hart bleiben. Der Stabilitätspakt wird nicht geändert. Dafür muss auch die neue Europäische Kommission stehen.

Auch die institutionelle Arbeit geht jetzt mit der Aufstellung der neuen Kommission weiter. Der neue Kommissionspräsident muss die neue Kommission auf die wesentlichen Herausforderungen und Prioritäten der Europäischen Union ausrichten. Er muss Vorschläge entwickeln, wie wir das Subsidiaritätsprinzip besser umsetzen. Der gemeinschaftliche Rechtsbestand muss systematisch auf Unionszuständigkeit überprüft und konsequent auf europäischen Mehrwert ausgerichtet werden.

Angemessen subsidiär verteilte Zuständigkeiten sollte bedeuten, dass sich die EU im Wesentlichen auf die Sicherstellung eines fairen und offenen Binnenmarktes, auf Handel, Finanzmarkt und Währung, Klima, Umwelt und Energie sowie Außen- und Sicherheitspolitik konzentriert – auf die Bereiche also, in denen nur die europäische Ebene noch nachhaltig erfolgreich handeln kann und die Mitgliedstaaten nicht mehr. Und die anderen Belange sollten wir in mitgliedstaatlicher Zuständigkeit belassen.

Ich könnte mir vorstellen – das ist mehr eine Überlegung zur Verfassungsinstitution, aber es hat mit der Struktur von Europa und des Euro entscheidend zu tun –, dass wir künftig die Gesetzgebungs- und die Vollzugszuständigkeiten stärker deckungsgleich machen. Dafür brauchen wir keine europäische Verwaltung in der Fläche. Es müsste reichen, dass europäisch getroffene Beschlüsse ohne Abstriche umgesetzt werden.

Der neue Kommissionspräsident muss Vorschläge erarbeiten, wie der in der Krisenbekämpfung erreichte Integrationsstand zukünftig wieder in den Verträgen abgebildet und das Primärrecht für weiter erforderliche Integrationsschritte geöffnet werden kann. Einige der notwendigen Anpassungen der Verträge werden die neue Realität in der Eurozone widerspiegeln. Aber wir müssen dabei sehr vorsichtig sein. Wir müssen die Tür weit offen lassen für Mitgliedstaaten, die den Euro noch nicht eingeführt haben. Das ist dieselbe Diskussion, die wir in den neunziger Jahren schon einmal hatten.

Die Kommission muss stärker werden für eine unabhängigere Anwendung der Fiskalregeln. Ich halte viel von der Idee eines europäischen Haushaltskommissars, der nationale Haushalte zurückweisen kann, wenn sie den gemeinsam vereinbarten, geltenden Defizitregeln nicht entsprechen. Das ist übrigens kein Verstoß gegen das Budgetrecht der nationalen Parlamente. Denn wie sie das dann machen, ob sie die Ausgaben senken oder Einnahmen steigern, bleibt Sache der Mitgliedstaaten. Aber dass man die Regeln durchsetzt, die man sich gegeben hat, ist kein Verstoß gegen die Souveränität. Sonst wäre übrigens das europäische Wettbewerbsrecht, wo es genauso ist, ja auch nicht möglich. Es ist kein Verstoß gegen die nationale Souveränität, dass, wenn man im rechtlichen Rahmen Verpflichtungen eingeht, man dann auch gezwungen ist, sie einzuhalten.

Für all das brauchen wir aber auch eine stärkere demokratische Legitimation der europäischen Institutionen. Das Ziel lautet für mich: eine von Europas Bürgerinnen und Bürgern eindeutig legitimierte Legislative, Exekutive und Judikative auch auf europäischer Ebene – neben denen auf nationaler Ebene.

Ich glaube nicht, dass wir einen europäischen „Superstaat“ bilden oder anstreben sollten. Ich glaube, wir sollten so etwas schaffen wie eine europäische „Mehr-Ebenen-Demokratie“: das wäre eine spezifisch europäische Mischform von nationaler und gemeinschaftlicher Souveränität, ein sich ergänzendes und beschränkendes, ineinander greifendes System von Demokratien verschiedener Reichweite und Zuständigkeiten: eine national-europäische Doppeldemokratie. Ich glaube sowieso, dass sich das Regelungsmonopol des Nationalstaats in der Geschichte ziemlich erschöpft hat.

Aber die dafür notwendige Bereitschaft zur Kompetenzübertragung auf Europa ist bei der Mehrzahl der Menschen in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten heute nicht vorhanden. Darüber zu klagen hat keinen Sinn, man muss es zur Kenntnis nehmen und akzeptieren, sonst ist man kein Demokrat.

Daher müssen wir – bis diese Bereitschaft vorhanden ist – weiterhin mit den unvollkommenen Instrumenten und Institutionen, die wir heute haben, Europa voranbringen – und uns dafür in den kommenden Jahren auf Felder konzentrieren, die für Wachstum und Beschäftigung ganz entscheidend sind:

Wir müssen das Vertrauen in die Staatsfinanzen wiedergewinnen. Geordnete Staatsfinanzen sind Grundlage von Wachstum, Beschäftigung und Investitionen. Wer das bezweifelt, kann sich die erfolgreiche Entwicklung in Deutschland in den letzten Jahren anschauen. Wir werden diesen Kurs in Deutschland beibehalten.

Allerdings ist der Staat mit den nötigen Investitionen, etwa in die Infrastruktur, zunehmend überfordert. Es steht auch nirgends geschrieben – und in anderen Teilen der Welt ist es keineswegs so –, dass allein der Staat für die Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur zuständig ist. Wir brauchen vor allem private Investitionen. Wir arbeiten daran, dieses viel größere Potential stärker auszuschöpfen.

Wir müssen die Finanzmärkte weiter so regulieren, dass sie der Realwirtschaft nützen. Die Bankenunion wird helfen, dass gesündere Banken ihrer Finanzierungsfunktion für Unternehmen wieder besser nachkommen können.

Aber die Lage im Finanzsektor ist in einigen Ländern immer noch angespannt. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen sind auf Förderkredite und auf Wagniskapital dringend angewiesen. Wir haben deswegen zuletzt die öffentlichen Förderbanken gestärkt.

Jetzt arbeiten wir daran, im Bereich der Wagniskapitalfinanzierung für Start-Up-Unternehmen in Deutschland und Europa voranzukommen. Und wir prüfen Möglichkeiten, die Verbriefung von Mittelstandskrediten hoher Qualität zu erleichtern. Verbriefungen sind in der Finanzkrise sehr in Verruf geraten, aber sie sind per se nicht falsch. Sie müssen jedoch durch vernünftige Regulierung gegen Missbrauch besser geschützt sein, als sie das in der Vergangenheit waren.

Wir müssen in einigen Mitgliedsländern – das ist das Allerwichtigste und Schwierigste zugleich – die Strukturreformen auf den Arbeitsmärkten voranbringen. Wir brauchen Ausbildungssysteme, die sich stärker am Bedarf der Arbeitsmärkte ausrichten. Wir brauchen Reformen, die den Zugang junger Menschen zum Arbeitsmarkt erleichtern. Und wir brauchen flexible Systeme der Lohnfindung, die die Produktivität berücksichtigen.

Wir müssen den Binnenmarkt weiter vertiefen. Da ist noch viel Potenzial für eine Steigerung des Wirtschaftswachstums, etwa durch Marktöffnung auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten. Das federt wirtschaftliche Schocks sehr viel effizienter ab, als es jeder staatliche Transfermechanismus gewährleisten könnte.

Wir sollten auch Handelsabkommen nicht nur verhandeln, sondern abschließen. Wir Deutsche sollten gelegentlich daran denken, dass wir nicht alle unsere hohen Standards eins zu eins global zur Voraussetzung machen sollten. Ich bin auch mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika trotz aller Irritationen über mangelnde Reziprozität unbedingt dafür, dass wir die Vorteile des transatlantischen Freihandelsabkommens für uns, genauso wie für die Amerikaner, nicht aus den Augen verlieren.

Wir müssen auch schädlichen Steuerwettbewerb eindämmen. Wir müssen die Tendenz eines „race to the bottom“ in der Besteuerung stoppen. Dafür brauchen wir zumindest in Europa einheitliche Standards, um Gewinnverkürzungen und Gewinnverlagerungen, aber auch Doppelbesteuerung wie Doppelnichtbesteuerung, besser zu vermeiden. Wir gehen auch da schrittweise voran. Vor kurzem haben wir durch die Änderung der EU-Richtlinie für Mutter-Tochtergesellschaften einen wichtigen Fortschritt erzielt.

Wir sollten uns in Europa um eine Energieunion bemühen. Wir müssen unsere nationalen Energienetze verbinden zu einem intelligenten europäischen Netz, das Energieproduktion und -verbrauch zusammenbringt. Und wir brauchen eine europäische Strategie für den Umstieg auf nachhaltige Energien. Wir müssen unsere Abhängigkeit von Importen und schwindenden Ressourcen reduzieren.

Schließlich sollten wir für eine digitale Union arbeiten – mit einer europäischen Netzwerk-Infrastruktur und mit optimalen Bedingungen für europäische Player im Hardware- und Software-Bereich. Wenn wir hier keine europäischen Player zustande bringen, haben wir im globalen Wettbewerb keine wettbewerbsfähigen Unternehmen mehr. Ich habe mir kürzlich die Probleme in Finnland nach den dramatischen Veränderungen bei Nokia angeschaut. Es muss uns zu denken geben. Es ist auch eine Regulierungsfrage in Europa. Wir haben in jedem Mitgliedsland mehr Regulierung für Kabelnetze als die Vereinigten Staaten von Amerika insgesamt, von China nicht zu reden. So schafft man keine wettbewerbsfähigen Unternehmen für den globalen Markt.

Alles in allem haben wir trotzdem die Krise in Europa bis jetzt ganz gut gemeistert. Europa ist immer wieder vor allem in Krisen vorangekommen. Das wird auch jetzt erneut so sein – wenn wir den begonnenen Weg konsequent weitergehen und uns dabei nicht irritieren lassen. Wenn man noch nicht über den Berg ist, darf man nicht nachlassen, sonst geht es wieder abwärts.

In Europa sind nicht unsere Regeln das Problem, sondern dass sich nicht alle an die Regeln halten. Dort liegt auch der Verbesserungsbedarf. Deswegen sollten wir uns in Deutschland übrigens auch nicht ein Vorbild für Europa nennen. Ich kann nichts Außergewöhnliches daran finden, dass man sich an die Regeln hält, die wir in Europa gemeinsam beschlossen haben. Mehr machen wir mit unserer Finanz- und Haushaltspolitik nicht.

Wir werden Geduld brauchen in Europa – immer wieder. Weil Europa, solange wir nicht große Katastrophen erleben, sich nur in kleinen Schritten vorwärtsbewegen wird. Je größer die Krise, umso größer die Schritte. Aber ich will keine große Krise.

Krisen sind immer auch Chancen. Die europäische Einigung ist aus Krisen entstanden und in Krisen vorangekommen. Und es ist hochinteressant: In der Eurokrise ist in allen Meinungsbefragungen nicht nur, aber vor allen Dingen in Deutschland die Zustimmung zum Euro ständig gewachsen. Die Menschen haben erkannt, was auf dem Spiel steht. Und vielleicht liegt die Zustimmung auch ein wenig daran, dass wir einen ordnungspolitisch reflektierten und begründeten Weg aus der Krise eingeschlagen haben.“