Lektionen, die wir lernen müssen



Von Friedrich August von Hayek haben wir gelernt, dass Wirtschaft und Gesellschaft keine Maschinen sind. Wer glaubt, er könne volles Wissen erwerben, das die Beherrschung des Geschehens ermöglichen würde, hat kein Wissen, er maßt es sich an. Hayeks Warnung ist meist nur als Warnung vor zentraler Steuerung durch den Staat verstanden worden. Sie bezieht sich aber auch allgemein auf menschliche Handlungszusammenhänge. Letztlich geht es darum, dass der Mensch in komplexen Systemen die Zukunft weder vorhersagen noch wirklich steuern kann, weil das Wissen, das nötig wäre, nirgendwo gebündelt ist und soziale Zusammenhänge nicht mathematisch sicher zu erfassen sind.

Die Finanzkrise gibt uns allen Anlass, sich dieser Erkenntnis zu erinnern. Sogenannte innovative Finanzprodukte basieren auf komplizierten mathematischen Modellrechnungen, die vorgeben, Risiken vollständig in Zahlen fassen zu können. Offenbar können diese Risiken aber von so gut wie Niemandem mehr verstanden werden, weil sie intuitivem Verständnis nicht mehr zugänglich sind. Auf den Finanzmärkten werden Komplexitäten geschaffen und gehandelt, die an die Grenzen der menschlichen Verständnisfähigkeit gehen. Der Handel mit Derivaten bedeutet, dass sich Risiken und Informationen über Risiken weitgehend von ihrer realwirtschaftlichen Grundlage lösen und immer weniger anschaulich werden.

Das Kernproblem ist: mangelnde Transparenz, zunehmende Beschleunigung und Komplexität, die wir überall aber eben auch in der Finanzwelt beobachten können, sowie eine Abkoppelung von Entscheidung und Verantwortlichkeit. Die Folge ist eine weltweite Verteilung gigantischer Kreditausfallrisiken durch Verbriefung und sogenannte Finanzinnovationen bis hinein in die Depots der Bürger. Hinzu kommen Vergütungs- und Anleihsysteme, die kühne Spekulationen provozierten.

Sind also nur die Banken schuld? So einfach ist es nun auch wieder nicht. Die jahrelang laxe Geldpolitik der Notenbanken, das sozial- und integrationspolitisch motivierte Anheizen des US-Immobilienmarktes, die verhängnisvolle Entscheidung der US-Börsenaufsicht SEC zur Aufhebung der Verschuldungsgrenzen für Wertpapierhandelshäuser: All das hat mit dazu beigetragen, dass Kredite veranwortungslos vergeben wurden.

„Entfesselte Märkte. Den Kapitalismus von der Leine lassen“ hieß 1996 ein wegweisendes Finanzmarktbuch von Lowell Bryan. Heute klingt das leider verdächtig nach Ikaros‘ fatalem Höhenflug.
Ohne dass wir es gemerkt haben, hat sich die eigentlich auf Dezentralität und Vielfalt zielende marktwirtschaftliche Ordnung in der Finanzwirtschaft stark zentralisiert. Es gibt weltweit Hunderte Banken, aber drei Ratingagenturen. Das bringt uns zurück zu Hayek: Wenn es zwangsläufig ist, dass wir uns irren, dann ist es besser, wir dezentralisieren; viele Akteure treffen ihre Entscheidung je für sich und kommen zu sehr verschiedenen Ergebnissen. Im Wettbewerb zeigt sich dann, welche Entscheidungen besser waren. Diese werden durch Markterfolg belohnt und finden Nachahmer, die Schlechteren werden verdrängt. Das Scheitern der Schlechteren reißt aber nicht gleich alle in den Abgrund. Die Überlegenheit der Marktwirtschaft basiert gerade auf diesem klugen, zugleich Chancen eröffnenden und Risiken begrenzenden Prinzip.

An den Finanzmärkten haben wir auch eine Konzentration der Akteure erlebt. die eine weitere Prämisse der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht mehr trägt: die Verantwortung für das eigene Scheitern. Viele Institute seien, so wird uns Politikern gesagt, „too big to fail“, also schlicht zu groß, als dass man sie fallen lassen könnte. Das führt dann dazu, dass die Gewinne privat sind, die Verluste aber nun sozialisiert werden. Wir müssen aufpassen, dass am Ende nicht die Inhaber besonders riskanter, aber auch besonders ertragsbringender Wertpapiere auf Staatskosten weiter Überrendite beziehen, während die Allgemeinheit dafür geradesteht.
Zur Größe der Finanzunternehmen kommt ihre Vernetzung. Banken machen Geschäfte weniger mit ihren Kunden und mehr untereinander. Das Scheitern eines Instituts kann deshalb, so wird uns gesagt, Kettenreaktionen im weltweiten Finanzsystem auslösen, die wiederum auf die Realwirtschaft zurückschlagen. Auch hier liegt ein Problem: Wenn eine Branche nennenswerte Teile ihres Geldes mit Geschäften „unter sich“ verdient, kann etwas nicht stimmen.
So erleben wir in der Krise eine Renaissance des Staates. Galt er zuvor als Störfaktor in der Wirtschaft, so wird er nun gerufen. Offenbar sind die Märkte selbst nicht in der Lage, das Vertrauen zu gewährleisten, das gerade auf Finanzmärkten lebensnotwendig ist. Das Eingreifen des Staates im Herbst war nötig, um eine Kernschmelze im Finanzsystem zu verhindern.
Wir müssen aber vorsichtig sein, dass nicht an die Stelle der Hybris der Wall Street nun eine neue Hybris tritt, nun in der Form grenzenlosen Vertrauens in staatliche Steuerungsfähigkeit. Ich habe manchmal den Eindruck, als glaubten viele, es ginge so weiter wie vorher, wenn der Staat kurz interveniert hat. Dabei ist es vielleicht umgekehrt so, dass die Tiefe dieser Krise auch damit zusammenhängt, wie in der Vergangenheit Konjunktureinbrüche bekämpft wurden: mit einer Politik billigen Geldes, immer leichtsinnigerer Kredite.

Der größte Fehler, den wir machen könnten, wäre, jetzt reflexartig eine grundlegende Systemkrise der Mixed Economy, der sozialen Marktwirtschaft, zu diagnostizieren oder das Ende der globalisierten Weltwirtschaft herbeizurufen. Wir dürfen uns nicht in eine Systemkrise hineinreden. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen. dass es in der menschlichen Geschichte keine ununterbrochene Linie nach oben geben kann. Auf eine Serie von Fortschritten folgen Rückschritte. Das hat nichts damit zu tun, dass die soziale Marktwirtschah nicht funktionierte – dann hätte sie nicht jahrzehntelang Wohlstand geschaffen – sondern das liegt eher in der menschlichen Natur und der daraus folgenden Gefahr, durch Übertreibung auch wieder zu zerstören.
Unserer sozialen Marktwirtschaft liegt die Idee der offenen Gesellschaft zu Grunde. Sie wird aus der Krise lernen. Und weil sie lernfähig ist, wird sie diese wie künftige Herausforderung am besten meistern.
Quelle: Der Text basiert auf einer kürzlich gehaltenen Rede über die Finanzkrise an der London School of Economics, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Financial Times vom 05.03.2009.