„Geborgenheit ist die beste Prävention“



Interview der Pforzheimer Zeitung mit Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) über Zivilcourage, Polizei auf Bahnhöfen und Exzesse von Jugendlichen

 

Der tödliche Angriff zweier Jugendlicher in München auf einen 50-jährigen S-Bahn-Fahrgast hat eine heftige Debatte über Zivilcourage, schärfere Gesetze und mehr Polizeipräsenz ausgelöst. Über den Münchner Fall und den Umgang mit Jugendgewalt hat sich gestern im PZ-Forum PZ-Redakteur Jürgen Metkemeyer mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) unterhalten.

Pforzheimer Zeitung: Das 50-jährige Opfer von München hatte Zivilcourage gezeigt und sich schützend vor Kinder gestellt, die von den Jugendlichen bedroht wurden. Nun zeigt einer mal Zivilcourage und bezahlt das mit dem eigenen Leben. Was läuft da schief in unserer Gesellschaft, Herr Schäuble?

Wolfgang Schäuble: Ich bin wirklich entsetzt, dass es junge Menschen gibt, die in einem so unvorstellbaren Maße gewalttätig werden. Man liest ja jetzt Meldungen, dass mindestens der eine von den beiden selber völlig fassungslos sei, wie es passiert ist. Aber wenn man sich den bisherigen Lebensverlauf dieser beiden jungen Leute anschaut, dann haben wir wieder einen Fall von Verrohung und Brutalisierung in unserer Gesellschaft, der alle Verantwortlichen zum Nachdenken bringen muss. Vielleicht versagt unsere Gesellschaft auch ein Stück weit in der Fähigkeit, alle jungen Menschen hinreichend auf dem Weg in ein friedliches Leben zu erziehen. Es gibt zum Teil schwierige Familienverhältnisse. Das scheint ja hier der Fall zu sein. Man muss überlegen, ob man dem mit Jugendhilfe-Maßnahmen stärker entgegenwirken kann. Wie können wir gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken? Wie können wir solche Prozesse der Verrohung verhindern?, sind Fragen, die wir uns alle stellen müssen. Das Zweite ist: Man wird natürlich schauen: Kann man noch mehr für Polizeipräsenz sorgen? Ich hab auch angeordnet, dass die Bundespolizei auf den Bahnhöfen, in den Zügen, noch mehr Präsenz zeigt, aber wir stoßen dann schnell an die Grenze. Wir können jeden Polizisten nur einmal einsetzen.

PZ: Härtere Strafen, eine längere Höchststrafe für Jugendliche, geschlossene Erziehungslager und vor allem: Mehr Urteile nach Erwachsenenstrafrecht für Heranwachsende, so lauten die wesentlichen Forderungen auch aus Ihrer Partei. Können härtere Strafen Exzesse dieser Art verhindern?

Schäuble: Also, ich glaube nicht, dass eine Erhöhung des Strafrahmens auf solche Täter in einer solchen Situation eine wirklich abschreckende Wirkung hat. Bei Jugendlichen, die nachhaltig straffällig geworden sind – und beide sind es ja , der eine war ja offensichtlich schwer drogenabhängig –, müssten erzieherische Maßnahmen stärker eingesetzt werden. Aber auch die generelle Einstellung zur Notwendigkeit von Erziehung muss in unserer Gesellschaft wieder stärker verbreitet werden. Die Eltern müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, und dort, wo Eltern dazu nicht in der Lage sind, muss die Jugendhilfe früher einsetzen und das ergänzend machen. Denn alle diese Menschen haben irgendwann mal einen Vater oder eine Mutter gehabt, die ihre Verantwortung nicht richtig wahrgenommen haben.

PZ: Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Jugendgewalt zunimmt. Zugleich fehlt den Kommunen das Geld für ordentliche Jugendarbeit. Wie wollen unsere Innenpolitiker das ausgleichen?

Schäuble: Wir dürfen doch nicht alles vom Staat erwarten. Das hat unser Staat früher auch nicht gehabt und trotzdem sind die Jugendlichen nicht gewalttätig geworden. Ich glaube aber, wir haben im öffentlichen Raum generell schon eine stärkere Brutalisierung. Schauen Sie mal, wie viel Gewalt in den Medien zu sehen ist. Wir wissen, dass junge Menschen, zum Beispiel die Amokläufer, sich Stunden und Stunden mit solchen Gewaltexzessen beschäftigt haben. Deswegen möchten wir ja auch ein Stück stärker den Zugang von jungen Menschen zu solchen Gewaltangeboten begrenzen – das könnte vielleicht auch helfen. Natürlich gilt auch da: Eltern können auch schauen, was ihre Kinder machen und nicht einfach kapitulieren und sagen „da kann man ja doch nichts machen“. Jedes Kind hat ein Recht darauf, von Eltern Geborgenheit zu erfahren. Das ist die beste Prävention gegen Gewaltkarrieren.

PZ: Nach den Personalausdünnungen der Bahn gibt es immer weniger Schaffner in Zügen. Die Bahnhöfe sind oft verlassene Geisterstationen.
Ist der Mangel an solchen Autoritäten eine Ursache für Ausschreitungen dieser Art?

Schäuble: Das war gerade kein einsamer Bahnhof. Es gibt Rationalisierungsprozesse in vielen Bereichen. Das ist notwendig, wenn Unternehmen wirtschaftlich überleben wollen. Aber hier war es jedenfalls nicht der einsame Bahnhof, wo keine Menschen waren, sondern es war eine belebte Strecke und eine belebte S-Bahn-Station. Wir in Bund und Ländern überlegen: Können wir mehr polizeiliche Präsenz am Bahnhof und in den Zügen erreichen? Solche traurigen Vorfälle geben uns in jedem Fall Anlass, über die Tendenzen der Anonymisierung und des Rückzugs in virtuelle Räume in unserer Gesellschaft nachzudenken und dagegen angemessen und maßvoll anzugehen.

PZ: Also nicht mehr Polizei, keine schärferen Strafen und kein härteres Jugendrecht. Sie plädieren für eine Humanisierung der Gesellschaft?

Schäuble: Ich kann den Ländern keine Vorschriften machen. Außerdem weiß ich, wie die Haushaltszwänge sind. Wir werden nicht in jedem Zug – es fahren jeden Tag 30 000 Züge – zwei Polizisten mitfahren lassen können. So viel wird der deutsche Steuerzahler nicht bereit und in der Lage sein zu finanzieren.

(Quelle: Pforzheimer Zeitung, Ausgabe vom 17. September 2009)