Europa hat seine beste Zeit noch vor sich



Rede von Dr. Wolfgang Schäuble beim 23rd Frankfurt European Banking Congress am 22. November 2013 in Frankfurt am Main

Viele Beobachter der internationalen Entwicklung fürchten, der Westen verliere die Kontrolle über die Globalisierung. Es gibt die Sorge, dass sich die weltwirtschaftlichen Gewichte verschieben, und sich die Globalisierung nicht so entwickelt, wie sich das manche im Westen gedacht haben: als ein Prozess fortschreitender Öffnung und weltweiter Vereinheitlichung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Und es wird befürchtet, es gelinge nicht, den Handel mit Dienstleistungen global zu liberalisieren oder das geistige Eigentum zu schützen, und deswegen weiche man mehr und mehr in bilaterale und regionale Freihandelsabkommen aus. Daran ist sicher etwas Wahres, zumal auch der Westen selbst die Zweifel stärkt, indem sich die westlichen Demokratien schwertun, ihre Schuldenprobleme in den Griff zu bekommen. Und manche sagen eine weitere Destabilisierung der politischen Systeme westlicher Ordnung voraus, auch dafür gibt es Punkte, über die man sich Gedanken machen kann.

Anhand solcher Beobachtungen kann man nicht nur die Chancen, sondern auch die Grenzen des professionellen Beobachtens der politischen Entwicklung erkennen. Es ist eine Eigenart unserer Kommunikationsgesellschaft, dass wir für lang andauernde Entwicklungen zu wenig Geduld aufbringen. Man muss gelegentlich daran erinnern, dass wir in kleinen Schritten, aber doch mit einer gewissen Entschlossenheit, Entwicklungen beharrlich auf den Weg bringen, die nicht ohne Erfolge sind. Und wenn man dann mit einigem zeitlichen Abstand wieder bewertet, stellt man fest, dass doch eine Menge erreicht wurde.

Das gilt für die europäische Entwicklung. Das gilt für die Regulierung der internationalen Finanzmärkte. Und das gilt auch für viele Entwicklungen auf dem Weg der Lösung oder Bekämpfung unserer Probleme in Europa. Das ist unsere Hauptaufgabe in Europa: Wenn wir Europa und seine zukünftige Rolle bedenken, müssen wir unsere Verhältnisse und unsere Beziehungen in dieser globalen Entwicklung berücksichtigen. Die Gewichte in der wirtschaftlichen Entwicklung, in der globalisierten Welt, verändern sich in einem rasanten Tempo, nicht nur aus demografischen Gründen. Für uns heißt das: Wir müssen stärker und wettbewerbsfähiger werden, sonst werden wir immer weniger relevant werden. Daher müssen wir uns ständig besser und überzeugender aufstellen. Das können wir in Europa übrigens nur gemeinsam machen. Das können wir nur machen, wenn Europa sich Schritt für Schritt weiter integriert und die wirtschaftlichen Spaltungen, die heute unseren Kontinent durchziehen, abbaut. Auch der von uns beanspruchte Werte-Überbau würde uns nicht weiterhelfen, wenn die institutionelle und wirtschaftliche Substanz immer weiter schwinden würde. Deswegen müssen wir unseren Ehrgeiz darauf richten, dass wir global attraktiv und wettbewerbsfähig bleiben.

Wir haben in der Krise erleben müssen, welch dramatische Folgen eine übermäßige Verschuldung haben kann, ja auf Dauer fast unausweichlich haben muss. Die Krise hat uns die Defizite in einer Reihe von Mitgliedsländern der Europäischen Union vor Augen geführt: mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, durch eine schuldenfinanzierte Scheinblüte nur zeitweilig übertüncht, anstelle eines nachhaltigen Wachstums. Und mit allem Respekt: Wenn ich mir die Debatte über die Haushaltskrise in den Vereinigten Staaten in den letzten Wochen anschaue, dann wird man auch dort verstärkt darüber nachdenken müssen, dass ein dauerhaft immer höheres Schuldenniveau zunehmend auch Folgen haben wird.

Seit dem Zweiten Weltkrieg galt die Funktionalität des Westens allen anderen Systemen als weit überlegen. Seit dem Zusammenbruch von „Lehman Brothers“ mehren sich die Zweifel, ob die Funktionalität unserer westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und unserer politischen Ordnung wirklich so noch gegeben ist, wenn man Entscheidungsprozesse in Europa und in den Vereinigten Staaten von Amerika betrachtet. Deswegen müssen wir diese Mechanismen reformieren.

In Europa haben wir in dieser Krise gelernt, dass stabile Haushalte kein Selbstzweck sind und dass tragfähige Finanzen die Grundlage für Vertrauen auf den Märkten bilden. Der Mangel an Vertrauen war unser größtes Problem in der Eurozone in den letzten Jahren. Wenn es einmal verloren ist, ist es nicht leicht zurückzugewinnen. Vertrauen ist in jeder marktwirtschaftlichen Ordnung die entscheidende Ressource.

Das gilt übrigens auch für die Finanz- und Bankenbranche. Und das gilt für das Verhältnis von Bürgern, Banken und Staaten zueinander. Dass sich viele Bürger in den letzten Jahren enttäuscht von der Finanzwelt abgewendet haben, ist nicht allein Schuld der Politik, sondern zu einem Großteil auch des Finanz- und Bankensektors selbst. Die Politik mag in der Regulierung manches falsch machen, manches übertreiben, manches Mal kompliziert sein, aber ganz alleine sind wir an den Problemen, die in den letzten Jahren entstanden sind, nicht schuld. Eine saubere Analyse ist die Voraussetzung für eine vernünftige Therapie. So viel Kritik muss sein!

In der Eurozone ist daher das Allerwichtigste, das Vertrauen wieder zu erarbeiten, um diese Vertrauenskrise zu überwinden. Auch die Banken müssen sich durch ausreichende Kapitalisierung und durch das ständige Arbeiten an der eigenen Krisenfestigkeit das Vertrauen von Bürgern und Politik wieder erarbeiten. Vor allen Dingen müssen die Banken auch untereinander wieder verstärkt Vertrauen fassen. Deswegen ist der Stresstest der EZB so wichtig vor der Einführung der europäischen Bankenaufsicht. Er muss gründlich durchgeführt werden. Und aus den Ergebnissen müssen die richtigen Schlüsse gezogen werden. Wir werden nur mit einem leistungsstarken Bankensektor und mit soliden Staatsfinanzen günstige Rahmenbedingungen für wettbewerbsfähige Unternehmen und für nachhaltiges Wachstum schaffen.

Solide Staatsfinanzen sind Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des Staates. Das gilt in Krisensituationen, aber auch um die wichtigen Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur vornehmen zu können. Stabile Finanzen und nachhaltiges Wachstum sind keine Gegensätze. Wir können nicht zwischen Wachstumspolitik und „austerity“ wählen, dies sind vielmehr zwei Seiten derselben Medaille. In allen internationalen Entwicklungen kann man den engen Zusammenhang bestätigt sehen und die bequeme Mär widerlegen, man könne zwischen der einen und der anderen Option wählen. Das haben wir in den letzten Jahren in Deutschland bewiesen. Wir galten vor wenigen Jahren noch als „kranker Mann“ Europas. Jetzt sind wir Stabilitätsanker und Wachstumslokomotive. Auch wenn unser Wachstum bescheiden ist, sind wir besser als alle anderen europäischen Länder aus dieser Krise, die uns 2009 wirtschaftlich stärker als die anderen getroffen hat, herausgekommen. Das kann jedenfalls kein Beweis dafür sein, dass unsere Überzeugung, der zufolge Haushaltssanierung, Strukturreformen und Wachstum zusammen gehören, falsch ist.

Im Übrigen zeigen sich auch in Europa erste Erfolge. Die Eurozone hat die längste Rezession ihrer Geschichte hinter sich gelassen und kehrt zu einem bescheidenen Wachstum zurück. Das durchschnittliche Haushaltsdefizit aller Mitgliedsländer der Eurozone hat sich gegenüber 2009 mehr als halbiert. Gegen Ende dieses Jahres werden Irland und Spanien erfolgreich ihre Hilfsprogramme beenden. Portugal ist auf einem guten Weg. Auch in Griechenland gibt es deutliche Fortschritte. Und das zeigt, dass dieser Weg von Reformen und Sanierungen der Haushalte – so anstrengend er auch sein mag – richtig ist. Das zeigt aber auch, dass man nicht bei den ersten Erfolgen schon wieder müde werden darf und mit dem Reformeifer nachlassen kann. Nein, man muss aus den erreichten Erfolgen gerade die Bestätigung ableiten, dass man die Reformen fortsetzen muss. Die Europäische Kommission rechnet für 2014 in der Eurozone mit einem Wachstum von 1,1 Prozent. Das ist nicht aufregend, aber es ist sehr viel besser als die Zahlen der letzten Jahre. Und für 2015 wird mit einer weiteren Zunahme der Wachstumsdynamik gerechnet.

Seit sechs Monaten verbessert sich übrigens die Wirtschaftsstimmung in der Eurozone kontinuierlich. Und die Verbraucher blicken zunehmend optimistisch in die Zukunft. In Deutschland haben wir das beste Verbraucherklima seit mehr als zehn Jahren erreicht. Das zeigt: Vertrauen ist nicht nur für Investitionen die entscheidende Ressource, sondern auch für die private Nachfrage, die derzeit in Deutschland das Wachstum zu mehr als 80 Prozent trägt.

Auch bei der Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen in Europa haben wir in den letzten Jahren Fortschritte erzielt. Wir sind in der Koordinierung unserer Finanz- und Haushaltspolitik deutlich vorangekommen. Wir haben bessere Kontrollen, wirksamere Reformvorgaben und empfindlichere Sanktionen im Euroraum wie auch in der gesamten Europäischen Union. Wir stärken die Überwachung und Koordinierung der Haushalte in der Eurozone, indem wir die Haushaltspläne der Mitgliedstaaten im Rahmen der neuen verstärkten Haushaltsüberwachung nun zum ersten Mal in einer Sondersitzung der Euro-Gruppe beraten. Es gibt noch kein Recht der Kommission, Haushaltsentwürfe zurückzuweisen. Dafür wäre ich persönlich im nächsten Schritt. Aber die Kommission gibt ihre Empfehlungen ab und diese werden öffentlich diskutiert. Deutschland erfüllt übrigens mit seinem Haushaltsentwurf die Vorgaben des europäischen Rechts.

Die Haushaltsüberwachung ist nicht zu verwechseln mit der Debatte über die vertiefte Analyse der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse. Die ist in Ordnung. Sie folgt den Regeln, dass wir auf Ungleichgewichte achten müssen und dass bei einem Auftreten von Leistungsbilanzüberschüssen von über sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts in drei Jahren in Folge eine vertiefte Analyse vorgenommen werden muss. Wenn wir ein wettbewerbsfähiges Europa wollen, sollten wir nicht die wenigen wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften schwächen, sondern uns weiter darauf konzentrieren, dass andere wettbewerbsfähiger werden und ihre Situation verbessern. Das wird das Ergebnis der Analyse sein. Wir jedenfalls begrüßen die Analyse. Wir stehen zu den Regeln. Die Untersuchung wird zeigen, dass die Überschüsse nicht auf Manipulationen beruhen, sondern auf einer relativen Stärke der deutschen Wirtschaft.

Wir haben mit dem Fiskalpakt in allen Euro-Mitgliedstaaten nationale Schuldenbremsen durchgesetzt. Das hätte man vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten. Sie werden ab dem 1. Januar 2014 in allen Mitgliedstaaten der Eurozone umgesetzt und eingeführt sein. Wir haben mit dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus ESM einen institutionellen, dauerhaften Krisenbewältigungsmechanismus, der Zeit für Reformen verschaffen und die Ansteckungseffekte auf andere Länder ersticken kann. Das ist ja auch gut gelungen: Die Ansteckungsgefahren in der Eurozone sind verschwunden. Aber ich will daran erinnern: Der Zweck des ESM war und ist in erster Linie ein präventiver. Manche sind besorgt, so lange die 500 Milliarden Euro, die wir im ESM zur Verfügung haben, nicht alle belegt sind. Der präventive Sinn dieser 500 Milliarden Euro war eigentlich, nicht verwendet zu werden, sondern als vertrauensgebende Maßnahme vorhanden zu sein. Das sollte nicht vergessen werden.

Ich behaupte nicht, dass wir alle Probleme gelöst haben. Und ich weiß auch, dass viele Lösungen, die wir treffen, nur die zweitbesten sind. Aber „second best“ ist meistens besser als nichts. Und man muss anerkennen, dass wir mit „second best“-Lösungen in Europa gut vorangekommen sind. Jetzt kommt es darauf an, diesen Weg weiter fortzusetzen.

Wir haben mit den länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission viele Anstöße zu Strukturreformen. Wir werden in einer Reihe von Ländern die Arbeitsmärkte und die Sozialsysteme weiter reformieren müssen. Im Übrigen ist der Prozess der Anpassung an weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen ein kontinuierlicher. Das gilt auch für Deutschland: Auch wir dürfen nicht glauben, dass wir uns auf erreichten Erfolgen ausruhen können. Und natürlich geht es in vielen europäischen Ländern auch darum, kleine und mittlere Unternehmen zu stärken und ihren Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten zu verbessern. Die Bundesregierung hat eine Reihe von bilateralen Maßnahmen in der Eurozone ergriffen, um kleineren und mittleren Unternehmen zu helfen. Wir setzen dabei auf Instrumente der KfW und wir raten anderen Ländern, ebenfalls entsprechende Förderbanken zu schaffen. Auf diesem Weg werden wir neues Wachstum und neue Arbeitsplätze schaffen, die wir brauchen, insbesondere für die jüngere Generation. Wir können es uns nicht erlauben, die Legitimität der europäischen Idee dadurch zu verlieren, dass eine junge Generation aufgrund einer zu hohen Jugendarbeitslosigkeit keine Perspektiven sieht. Deswegen werden wir von diesem Reformkurs nicht abweichen, sondern weiterhin konsequent auf eine Modernisierungsstrategie in Europa setzen.

Im Übrigen hat uns die OECD in ihrem jüngsten Bericht „Going for Growth“ bestätigt, dass wir mit unseren Programmauflagen gerade in den Krisenländern substantielle Reformen angestoßen haben. An der Spitze eines OECD-Indikators für Reformfreudigkeit stehen inzwischen Griechenland und Irland. Und auch Portugal, Spanien und Italien sind unter den „Top 10“, was Reformfreudigkeit in der OECD-Statistik anbetrifft.

Strukturreformen bleiben der Schlüssel zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltigem Wachstum. Strukturreformen sind in demokratisch verfassten Gesellschaften nicht immer leicht durchzusetzen, weil sie immer mit Unbequemlichkeiten verbunden sind. Und deswegen müssen wir darauf achten, dass wir Fehlanreize vermeiden. Aus diesem Grund wehren wir uns gegen eine Haftungsvergemeinschaftung, so lange wir nicht gemeinsame Entscheidungszuständigkeiten haben. Das Auseinanderfallen von Haftung und Entscheidung ist einer der Gründe für Fehlentwicklungen. Bei der jetzigen institutionellen Verfasstheit Europas muss dieser Weg der Strukturreformen weiter gegangen werden. Alles andere würde nur den Druck verringern.

Das gilt im Übrigen auch für die Geldpolitik. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem aktuellen Jahresgutachten darauf hingewiesen, dass natürlich in der expansiven Geldpolitik die Gefahr stecke, dass sie in manchen europäischen Ländern als ein falscher Anreiz verstanden werde, die notwendigen Reformen nicht so vordringlich durchzuführen. Diese Gefahr muss man auch sehen und auf sie aufmerksam machen. Geldpolitik – das sagt die EZB selbst immer wieder – kann kein nachhaltiges Wachstum schaffen. Sie kann Zeit für Reformen kaufen, aber sie kann die fundamentalen Probleme nicht lösen. Die EZB hat ihren Beitrag zur Krisenbekämpfung geleistet. Aber sie kann die Defizite der Europäischen Union und in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht beheben. Das kann nicht ihr Anspruch sein. Das ist nicht ihr Mandat. Das ist vielmehr Aufgabe der Politik. Und diese sollten wir nicht davon entlasten.

Zur Vorbeugung zukünftiger Krisen und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften gehört auch die deutlich bessere Regulierung der Finanzmärkte. Wir müssen eine Wiederholung der Krise, die wir unter dem Namen „Lehman Brothers“ erlebt haben, vermeiden. Ich fürchte, eine zweite Krise dieses Ausmaßes würde unsere demokratischen rechtsstaatlichen Systeme in eine schwierige Legitimitätskrise bringen. Auf den weltweit verflochtenen Finanzmärkten muss man wissen, dass man mit bestimmten Maßnahmen gar nichts erreicht, außer Veränderungen in der Standortsituation. Neue Regeln müssen daher so ausgestaltet sein, dass sie der Wirklichkeit und der Volatilität auf den globalisierten Märkten Rechnung tragen. Das gilt auch für die Bekämpfung der Steuergestaltung und der Steuerhinterziehung, wo wir auf OECD-Ebene große Anstrengungen unternehmen und wo wir mit dem automatischen Informationsaustausch ein Stück weit reagieren müssen auf die Volatilität in der globalisierten Welt.

Das gilt auch für die Regulierung der Banken. Entscheidend ist, dass wir dem Haftungsprinzip verstärkt Geltung verschaffen. Wir wollen für die Zukunft verhindern, dass die Steuerzahler noch einmal stark beansprucht werden müssen, weil sie in einer bestimmten Situation der alleinige „lender of last resort“ sind. Deswegen müssen wir dafür arbeiten, dass aus der Schieflage großer oder stark vernetzter Banken nicht erneut globale oder europäische Krisen entstehen können. Wir haben in Deutschland, Europa und der G20 einen neuen Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte geschaffen. Wir haben eine bessere Aufsicht und angemessenere Kapitalanforderungen bereits beschlossen. Jetzt arbeiten wir daran, Schattenbanken und Hedgefonds stärker zu überwachen und zu regulieren.

In Europa arbeiten wir derzeit an der Vollendung der Bankenunion, einem zentralen institutionellen Eckpfeiler. Auch dies geht in Europa nur auf dem Wege einer „second best“-Lösung. Wir müssten für eine richtige Bankenunion eine Änderung des europäischen Primärrechts vornehmen. Ich will Sie mit den Feinheiten von Artikel 114 oder 352 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht allzu sehr quälen. Wir können Schritte aber nur ergreifen auf der Basis einer klaren, eindeutigen rechtlichen Grundlage. Und das ist kompliziert in Europa.

Regeln für eine einheitliche Bankenaufsicht haben wir bereits beschlossen. Es wäre mir zwar lieber, sie nicht bei der EZB ansiedeln zu müssen, aber das ist der einzige Weg bei der gegebenen Vertragslage. Wir können nicht auf Vertragsänderungen warten. Politisch haben wir auch die Regeln für die einheitlichen Abwicklungsregeln in der „Bank Recovery and Resolution Directive“ (BRRD) vereinbart. Dabei geht es vor allen Dingen um die Haftungskaskade, mit der wir klare und verbindliche „bail-in“-Regelungen durchsetzen. Wir arbeiten jetzt an einem einheitlichen Abwicklungsmechanismus, für den wir aber eine rechtlich saubere Lösung finden müssen. Dazu braucht man auch einen Abwicklungsfonds. Aber wir können bei der gegebenen Vertragslage eine europäische Abgabe nur einstimmig beschließen. Das kann viel Zeit in Anspruch nehmen. Und wenn wir die Abgabe auf Artikel 114 AEUV stützen wollen, laufen wir Gefahr, dass Klagen gegen Abwicklungsentscheidungen erfolgreich sein könnten. Das wäre dann auch keine Finanzstabilität.

Ein europäischer Fonds ohne eine europäische Abgabe ergibt keinen Sinn. Unsinnig wäre auch, wenn der Fonds selbst Kredit aufnehmen müsste. Deswegen muss es in einem ersten Schritt mit einem Netzwerk von nationalen Fonds und nationalen Bankenabgaben gehen. Wer weitere Schritte will, muss sich entweder für den Weg einer einstimmigen Entscheidung oder für eine begrenzte Vertragsanpassung entscheiden. Für beide Wege setzt sich die Bundesregierung ein. Aber so lange es hierzu keine Entscheidung gibt, müssen wir den Weg über das Netzwerk nationaler Fonds und Bankenabgaben gehen, damit der Abwicklungsmechanismus rechtlich tragfähig bleibt.

Natürlich bleibt es auch bei der klaren Haftungskaskade, nach der die Eigentümer, die Anleger und am Ende auch die europäischen Mitgliedstaaten die Haftung übernehmen müssen. Solange die Mitgliedstaaten die Regeln setzen und durchsetzen, dürfen die Mitgliedstaaten aus der vorrangigen Haftung nicht entlassen werden. Auch im Zusammenhang mit der Debatte um einen „backstop“ bereits bei der Durchführung des Stresstests der EZB im Vorfeld der Bankenunion ist die Vorstellung, den ESM als „backstop“ heranzuziehen, jenseits aller Realität. Dies widerspricht dem Zweck des ESM und entspricht auch nicht den rechtlichen Regelungen zum ESM. Wenn ein Mitgliedstaat am Ende tatsächlich haften muss, weil ein nationaler Abwicklungsfonds noch nicht ausreichend vorhanden ist, aber der Staat wiederum dazu nicht in der Lage ist, dann haben wir die Möglichkeit der indirekten Kapitalhilfe, wie wir sie in Spanien erfolgreich umgesetzt haben. Und wenn wir eines Tages über eine direkte Bankenrekapitalisierung mit Mitteln aus dem ESM entscheiden müssten – für diesen Fall haben die Staats- und Regierungschefs die Voraussetzungen schon in ihren Gipfelentscheidungen im Juni 2012 getroffen –, dann müssten als Voraussetzung die Möglichkeiten des Mitgliedstaates zunächst erschöpft sein. Der ESM muss „lender of last resort“ bleiben.

Mittelfristig brauchen wir eine intelligent vertiefte europäische Integration, wenn wir uns nicht nur mit „second best“-Lösungen begnügen wollen. Wir brauchen europäische Institutionen, die besser demokratisch legitimiert sind, die ihren Aufgaben besser gerecht werden und die dann auch stärker gemeinsame Entscheidungen treffen können. Wir müssen die Wirtschafts- und Währungsunion in der begonnenen Weise weiter stärken und vertiefen. Wir müssen uns in der Analyse volkswirtschaftlicher Defizite und Schwachstellen einig sein. Und wir müssen die Verbindlichkeit der wirtschafts- und haushaltspolitischen Steuerung – auch die Umsetzung von Haushaltszielen und Reformauflagen – noch weiter steigern.

Deswegen haben Frankreich und Deutschland einen Wettbewerbspakt vorgeschlagen, solange wir nicht zu Vertragsänderungen kommen. Jedes Mitgliedsland soll sich in einem bilateralen Vertrag zu Strukturreformen verpflichten. Ich könnte mir übrigens schon im Rahmen der geltenden Verträge durchaus vorstellen, dass man der Europäischen Kommission dieselben rechtlichen Möglichkeiten gibt, die sie bei der Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts bereits hat: Die Kommission entscheidet. Und wem die Entscheidung nicht passt, der kann dagegen klagen. Aber er kann nicht politisch die Entscheidungen der Kommission außer Kraft setzen. Das könnte man bei der Vorgabe und Einhaltung finanzpolitischer Ziele auch für die Finanzpolitik entsprechend verbindlich vereinbaren. Das Haushaltsrecht der Mitgliedstaaten würde hiervon nicht berührt. Denn die Entscheidung, wie die Mitgliedstaaten ihr Defizit reduzieren, verbliebe bei ihnen. Die Budgethoheit der Mitgliedstaaten bliebe gewahrt.

Die Zeit drängt. Wir müssen in Europa weiter vorankommen. Aber wir dürfen über die Vision die Realität und die Realisierbarkeit nicht aus den Augen verlieren. Deswegen müssen wir unsere Visionen Schritt für Schritt pragmatisch umsetzen. Aber das Ziel ist klar: Wir wollen ein starkes, ein handlungsfähiges und ein wettbewerbsfähiges Europa.

Die Chinesen haben einen schönen Satz, der lautet: „Fürchte Dich nicht vor dem langsamen Vorwärtsgehen, aber fürchte Dich vor dem Stehenbleiben.“ Stillstand können wir uns nicht leisten. Das gilt auch für Europa. Die notwendigen Reformen müssen weitergehen. Wir müssen bei allem, was wir angefangen haben, versuchen, besser zu werden. Wenn wir Kurs halten, haben wir eine gute Perspektive. Das zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre.

Auf diesem Weg betreten wir immer wieder Neuland und gehen Schritt für Schritt voran. Im Übrigen haben Krisen auch ihr Gutes: Ohne Krisen bewegt sich in demokratisch verfassten Gesellschaften fast nichts. Europa hat sich nur in Krisen zu neuen integrativen Dimensionen durchgerungen. Wir folgen hierbei der Lehre von Karl Popper, dem „trial and error“. Er hat immer empfohlen, in politischen Fragen notfalls in kleinen, überschaubaren und vor allen Dingen auch korrigierbaren Schritten voranzugehen. Das ist das Wesen des sogenannten „piecemeal engineering“.

Natürlich muss man dabei wissen, was man eigentlich erreichen will: Wir wollen in Europa Stabilität, wirtschaftlichen Erfolg und damit ein starkes Europa. Man muss aber daran erinnern, dass wir in Europa im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsregionen spezifische Bedingungen haben. Es gibt ja eine schöne Beschreibung Deutschlands, die kann man auch auf Europa übertragen: „rich, aging and risk-averse“. Wir haben in Europa eine schwierige demografische Entwicklung. Wir sind, was die Risikobereitschaft anbetrifft, nicht gerade überemphatisch. Schauen Sie sich allein die Haltungen zu neuen Energiegewinnungstechnologien an – Stichwort „Fracking“. Und wir haben in Europa im Vergleich zu anderen großen Wirtschaftsräumen wie Nordamerika oder Australien ein doppelt so hohes Niveau von Sozialausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt.

Wer glaubt, dass das zu kritisieren ist, muss wissen, dass sich in diesem verstärkten Sicherheitsbestreben europäische Erfahrungen und Geschichte bündeln. Das ist als Tatsache und als Ausgangspunkt für Politik zur Kenntnis zu nehmen. Und weil dies so ist, müssen wir bei diesen spezifischen Anforderungen ansetzen. Dies schließt übrigens meines Erachtens aus, dass wir amerikanische Rezepte und Erfahrungen auf Europa übertragen können.

Wir haben spezifische europäische Strukturen und Probleme, die uns leiten müssen bei der Suche nach Lösungen. Und deswegen ist Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit für Europa eine absolute Notwendigkeit und damit natürlich mehr Bildung, Forschung, Innovation und Integration, wenn wir in der Zukunft relevant bleiben wollen. Nur wenn wir diese Herausforderung bei uns zu Hause in Europa lösen, werden wir in der Welt der Globalisierung weiter Gehör finden. Und nur dann werden wir für unsere Werte und Ideen auch im 21. Jahrhundert eintreten können.

Wir sind besser als andere in der Frage, wie man eine dynamische und eine leistungsfähige Volkswirtschaft mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit, mit Demokratie und Menschenrechten vereinbaren kann. Das ist keine Kleinigkeit. Aber das heißt, dass wir uns anstrengen müssen, dass wir selbst die Voraussetzungen für Relevanz schaffen. Das können wir machen. Und wir werden es Schritt für Schritt auf Basis der Erfahrungen der letzten Jahre auch erreichen. Deswegen sehe ich keinen Grund für Pessimismus. Wir müssen unsere Hausaufgaben selbst machen, aber wenn wir das tun, haben wir auch gute Chancen. Und deswegen glaube ich, wir haben Grund, mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen. Europa hat seine beste Zeit noch vor sich.