Eu­ro­pa 2016: Mehr oder we­ni­ger In­te­gra­ti­on?



Rede beim Wirtschaftstag des Wirtschaftsrats der CDU am 21. Juni 2016 in Berlin

Datum 21.06.2016
Ort: Berlin

Ich will heute die Gelegenheit nutzen – wenn der Präsident der Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, schon hier ist –, ein paar Bemerkungen zur Ordnungspolitik zu machen. Die Ordnungspolitik ist dem Wirtschaftsrat sehr vertraut. Außerhalb Deutschlands ist sie allerdings schwierig darzustellen. Wir sind ja nicht einmal in der Lage, eine englische Übersetzung für diesen Begriff zu finden. Was heißt Ordnungspolitik in der englischen Sprache? Manche Ökonomen kann man vielleicht erreichen, wenn man von moral hazard spricht – der Risikoerhöhung durch Fehlanreize. Im Übrigen ist auch die europäische Währungsunion eine Geschichte von moral hazard. Denn die Versuchung ist für Politiker groß, unangenehme politische Entscheidungen nicht zu treffen, solange es andere Alternativen gibt. Das gilt für alle Politiker, unabhängig von Partei und Nationalität. Im Prinzip ist es richtig, in guten Zeiten Reformen zu machen. Politisch ist das allerdings eher unwahrscheinlich.

In der internationalen Debatte konzentrieren wir uns gegenwärtig zu sehr auf monetäre Politik und auf Fiskalpolitik und drängen die eigentlichen Faktoren für nachhaltiges Wachstum – Innovationen, Strukturreformen und Investitionen – ein Stück weit nach hinten. Das ist ein globales Problem, das nicht auf Europa beschränkt ist. Es stellt sich aber in der europäischen Währungsunion mit einer ganz anderen Intensität. Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir nicht Fehlanreize setzen, falsches Verhalten am Ende erleichtern und damit die Abwälzung der Kosten unseres Handelns auf andere oder spätere Generationen zulassen – zumal bei gegebener Demografie.

In der europäischen Währungsunion ist es uns mit der Bankenregulierung der letzten Jahre ganz gut gelungen, Fehlanreize zu vermeiden. Risiko und Haftung wurden ein Stück stärker zusammen gebracht. Aber wir sind noch nicht in allen Punkten so weit. Deswegen bin ich bei einer gemeinsamen Einlagensicherung in Europa erkennbar skeptischer als Jeroen Dijsselbloem. Wir müssen die notwendige Reihenfolge einhalten: zunächst Risikoreduzierung, bevor wir über weitere Schritte von Risikovergemeinschaftung reden können. Denn wenn wir Risiko vergemeinschaften, werden wir es nicht mehr reduzieren. Darüber müssen wir uns klar sein.

Das Risiko von Fehlentscheidungen besteht im Wesentlichen auf der nationalen Ebene, weil dort über Strukturreformen entschieden wird – oder halt auch nicht. Wir können es deswegen nicht der Europäischen Kommission vorwerfen, dass es mit den Strukturreformen nicht voran geht. Von der Europäischen Kommission können wir allerdings fordern, dass sie auf die Einhaltung der vereinbarten Regeln achtet. Da teile ich wieder voll, was Jeroen Dijsselbloem hier vorsichtig und anderswo ein bisschen deutlicher gesagt hat. Wenn wir nicht insgesamt erfolgreicher darin werden, dass jeder das Seine auch tatsächlich macht, wird Europa nicht so stark und wettbewerbsfähig und handlungsfähig werden, wie wir es dringend brauchen. Wenn wir die Probleme, die sich uns stellen, lösen wollen, brauchen wir ein stärkeres und handlungsfähiges Europa.

Europa ist in keiner guten Verfassung. In mehr und mehr Mitgliedsländern – nicht nur in Großbritannien – wächst die Zahl der Menschen, die Zweifel an dem europäischen Einigungsprojekt haben. Das vermischt sich dann, mehr oder weniger appetitlich, mit allem möglichen anderen. Das ist im Übrigen eine Entwicklung, die wir nicht nur am rechten Rand des politischen Spektrums haben, sondern auch am linken. Und dass die Extreme von links und rechts im Zweifel in der Gefährdung der Stabilität des demokratischen Zentrums fleißig zusammenwirken, das ist jedenfalls in der deutschen Geschichte auch nicht neu. Daran sollten wir denken, bevor wir wieder darunter leiden müssen.

Deswegen werden wir nicht einfach so weitermachen können. Ansonsten werden die Menschen sagen: ihr habt es nicht verstanden. Die Briten, die skeptisch sind gegenüber der Europäischen Union, haben zum Teil auch unsere Besorgnis ausgedrückt. Die Gefahr eines Austritts des Vereinigten Königreichs aus dem gemeinsamen Markt macht deswegen auch manchem in Deutschland wieder klar, wie sehr wir vom gemeinsamen Markt profitieren. Es ist wichtig, dass wir immer wieder lernen, welchen großen Nutzen wir aus der europäischen Integration ziehen.

Das Problem bei Menschen ist ja, dass das, was sie selbstverständlich zu haben glauben, an Wertschätzung ein wenig verliert. Die Ökonomen nennen das den „abnehmenden Grenznutzen“. Aber wenn das Selbstverständliche gefährdet wird, wird man sich des Wertes wieder bewusst. Großbritannien ist ein wichtiger Markt für die deutsche Wirtschaft, und ein Austritt Großbritanniens wäre auch für uns ein erheblicher Schaden. Deswegen ist es gut, dass wir auf diese Weise lernen, welche Vorteile wir vom gemeinsamen Markt haben, und nicht immer glauben, wir würden nur diejenigen sein, die in Europa die Last von allen anderen zu tragen hätten. Das ist eine völlig falsche Sicht der Dinge. Die meisten Vorteile aus der europäischen Integration, wirtschaftlich und politisch, haben wir Deutschen, die wir in der Mitte Europas gelegen sind.

Vielleicht ist in Europa zu viel selbstverständlich geworden, so dass es nicht mehr genügend wert geschätzt wird. Man kann junge Menschen mit dem Hinweis darauf, dass wir eine Periode von siebzig Jahren Frieden haben, heute nicht mehr wirklich überzeugen. Die sagen: ja, das ist wunderbar, aber okay, haben wir. Offene Grenzen sind für uns so selbstverständlich, dass wir es uns gar nicht mehr vorstellen können, dass wir sie nicht haben könnten. Aber: Selbstverständlich ist nichts. Und nichts ist so sicher, dass es nicht auch gefährdet werden kann.

Jedenfalls haben viele Menschen in Europa das Gefühl, dass Europa in den schnellen Veränderungen dieser globalisierten Welt nicht richtig angekommen ist. In Deutschland sind wir ja immerhin von der Bonner Republik zur Berliner gekommen – was immer das heißt. Aber ob Europa schon den Wandel verstanden hat, der durch den Fall des Eisernen Vorhangs und durch die Einführung der Informations- und Kommunikationstechnologien entstanden ist, und ob Europa verstanden hat, welche Herausforderungen das bedeutet, das weiß ich nicht. Jedenfalls haben wir keine überzeugenden europäischen Lösungen für die Probleme, die uns auf den Nägeln brennen, wie etwa für das Flüchtlingsproblem im vergangenen Jahr. Wobei ich gleich hinzufüge, „Migration“ ist in europäischen Debatten teilweise etwas anderes als „Flüchtlinge“. Man muss da unterscheiden. Die Briten klagen über Migration und meinen die polnischen Arbeitskräfte. Da finde ich: es gibt schlimmere Bedrohungen, auch für Großbritannien – mit allem Respekt.

Die Flüchtlingsherausforderung zeigt, dass ein Europa ohne Kontrollen an Binnengrenzen eine gemeinsame Kontrolle der Außengrenzen erfordert. Die europäischen Außengrenzen kann man allerdings nur wirksam kontrollieren, wenn man stabile Nachbarschaftsregionen hat und wenn man mit diesen zusammenarbeitet. Ansonsten müssten wir uns mit Mauern umgeben, von denen ich nicht weiß, wo wir die im Mittelmeer genau bauen sollten. Deswegen brauchen wir die Partnerschaft mit den Nachbarschaftsregionen. Und deswegen brauchen wir die Partnerschaft mit der Türkei und wir brauchen die Partnerschaft mit dem Mittleren Osten und mit Nordafrika, unabhängig von der Frage, ob uns die jeweiligen Regime gefallen oder nicht.

Den Zwiespalt, in dem wir uns heute befinden, hat für mich niemand besser beschrieben als Richard Schröder. Er ist evangelischer Theologe und war für kurze Zeit SPD-Fraktionsvorsitzender in der Volkskammer der DDR. Vor einiger Zeit schrieb er: Die Kirchen können von ihren Mitgliedern mehr Barmherzigkeit verlangen. Jeder einzelne Flüchtling – ob aus Syrien oder aus den Sub-Sahara-Ländern wie Eritrea, die über Nordafrika kommen – erfordert unser Mitleid. Und deswegen muss der Christ barmherzig sein.

Richard Schröder hat allerdings auch geschrieben: Der Staat aber darf nicht barmherzig sein. Der Staat muss gerecht sein. Er hat nach Regeln zu handeln, und er hat die Folgen zu bedenken. Der Staat muss eine Ordnung schaffen, weil er sonst die Voraussetzungen für Barmherzigkeit und Freiheit nicht gewährleisten kann.

Was ich zum Nahen und Mittleren Osten gesagt habe, das gilt ein ganzes Stück weit auch für unsere östliche Nachbarschaft. Deswegen finde ich die Debatte, die wir im Augenblick in Berlin haben, ein bisschen skurril. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an das Finanzministertreffen in Brüssel, das am Tag nach der Besetzung der Krim standfand. Unsere Kollegen aus Skandinavien und aus den baltischen Ländern haben uns gefragt: Um wie viel erhöht ihr nun euer Verteidigungsbudget? Das war damals ihre Frage, weil sie sich unmittelbar bedroht sahen. Und nun führen wir eine Diskussion darüber, dass sich die Bundeswehr an Aktionen beteiligt, die man Säbelrasseln nennt. Alles Mögliche habe ich von der Bundeswehr bisher gehört, aber dass sie sich an Säbelrasseln beteiligt, ist mir nun wirklich neu. Und noch komischer ist: Dem Einsatz der Bundeswehr hat die Bundesregierung völlig einvernehmlich zugestimmt.

Natürlich haben wir ein Interesse daran, mit Russland ein gutes Verhältnis zu haben und gut zusammenzuarbeiten. Aber, wie die Bundeskanzlerin wieder und wieder gesagt hat: Wir werden nicht akzeptieren, dass mit Gewalt oder Androhung von Gewalt Regeln und Grenzen einseitig verändert werden. Und wenn wir das nicht akzeptieren wollen, dann ist auch klar, dass wir nicht den Fehler machen dürfen wie in früheren Jahrhunderten: Wir dürfen nicht auf Gewalt mit noch mehr Gewalt oder Gegengewalt reagieren. Damit wir nicht in diesen elenden Eskalationsmechanismus kommen. Und wenn auch das richtig ist, dann bleibt nur der eine Weg: Sanktionen und die offene Hand ausstrecken. Und zu sagen: Haltet euch an die Regeln. Wir möchten lieber mit euch zusammenarbeiten. Aber die Regeln müssen eingehalten werden, sonst geht es nicht zusammen.

Das alles sind Aufgaben, die kann nur Europa leisten. Die kann kein einzelnes europäisches Land alleine leisten. So wie ich im Übrigen auch überzeugt bin, dass wir die Anforderungen der Globalisierung unter den Stichworten Digitalisierung, struktureller Wandel und rasante Veränderung der globalen Wirtschaft nur europäisch beantworten können. Deswegen brauchen wir auf europäischer Ebene für diese zentralen Fragen Antworten.

Vieles andere ist hingegen weniger wichtig und kann auch ein bisschen zurückgestellt werden. Aber in den zentralen Fragen brauchen wir Antworten auch von den europäischen Institutionen, von der Europäischen Kommission und vom Europäischen Parlament.

Um es noch einmal zu sagen: Ein Europa ohne Binnengrenzen braucht einen gemeinsamen Schutz der Außengrenzen. Und es braucht eine gemeinsame Politik mit den Nachbarschaftsregionen, um durch Rückführung derjenigen, die zu uns kommen und die wir retten, der Schleuserkriminalität die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Dies ist auf der Route über die Türkei nach Griechenland und über den Balkan im Augenblick erfolgreich geschehen. Dafür haben wir jetzt die Route über Libyen und das Mittelmeer nach Italien.

Dazu brauchen wir im Übrigen auch einheitliche Verfahren in Europa, ein einheitliches Asylrecht mit einheitlichen Standards. Und da werden wir uns in Deutschland auch bereiterklären müssen, unseren moralischen Anspruch ein Stück weit europakompatibel zu machen. Denn Kritik geht nicht immer nur an andere, sondern auch an sich selbst.

In dem Maße, wie Europa in dieser Frage den Menschen zeigt, dass es Probleme lösen kann, in dem Maße wird Europa in Deutschland ganz schnell wieder an Zustimmung gewinnen. Das gilt im Übrigen genauso für die Bekämpfung der terroristischen Bedrohung und für die innere Sicherheit.

Die Sicherheitspolitiker wissen seit langem, dass die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit nicht mehr zu definieren sind. Was ist im Zeichen asymmetrischer Kriegsführung innere und was ist äußere Sicherheit? Und deswegen sind unsere alten Tabus in der deutschen Debatte auch ein Stück weit überholt.

Das wird von uns in Europa sehr viel mehr Engagement – wirtschaftlich und politisch – in unseren Nachbarschaftsregionen im Mittleren Osten und Nordafrika erfordern. Ob wir das lieben oder nicht, wir werden es trotzdem leisten müssen. Lange haben uns ein relativ stabiler Mittlerer Osten und Nordafrika viele der Probleme abgenommen. Das ist vorbei und es wird nun eine europäische Aufgabe sein. Die Amerikaner werden uns diese Aufgabe nicht abnehmen. Das gilt für andere Bereiche ganz genauso.

Das heißt, Europa muss sich auf diese zentralen Herausforderungen konzentrieren. Sonst werden wir es nicht schaffen. In diesem Zeitalter der Globalisierung brauchen wir in diesen Fragen europäische Lösungen und Antworten.

In Frankfurt tagt zurzeit die International Super Computing Conference. Auf dieser Konferenz hat der Chef des LRZ-Garching darauf hingewiesen, dass die Chinesen dabei sind, die leistungsfähigsten Supercomputer zu konstruieren, und zwar nicht unter Verwendung von westlichen Technologien, sondern aufgrund von völlig eigenen Entwicklungen. Und wenn man sich dann anschaut, wie viele der 300 leistungsfähigsten Supercomputer der Welt aus Europa kommen, dann ist Europa insgesamt ziemlich weit zurück. Und wenn wir da aufholen wollen, kann es kein europäisches Land für sich alleine. Aber Europa zusammen könnte sehr viel mehr leisten. Und wenn wir unsere Anstrengungen europäisch und national zusammenlegen, um in diesen Fragen die Herausforderungen anzunehmen, dann ist das eine Antwort, die die Menschen verstehen. Dafür haben wir Europa und dafür liefert uns Europa, was wir national nicht leisten können. Dafür haben wir ja auch die Juncker-Initiative. Aber in der Wahrnehmung der Menschen hat sie bisher noch nicht so richtig gehalten, was versprochen worden ist. Wir müssen also auch in der Umsetzung der Juncker-Initiative effizienter werden.

Und wir brauchen dringend eine Energie- und Digitalunion. Zu einer Digitalunion gehört aber auch Deregulierung im Datenschutz, weil wir sonst die einheitlichen europäischen Netze nicht zustande bringen und sie auch nicht ausreichend nutzen können.

Um die Menschen wieder zurückzugewinnen, überall in Europa, muss Europa leisten, was die Mitgliedsstaaten alleine nicht leisten können. Und da können wir noch effizienter werden. Mich ärgert seit vielen Jahren, dass die Jugendarbeitslosigkeit im südlichen Teil Europas unerträglich hoch ist – immer noch. Es ist einfach nicht akzeptabel, dass wir einen Großteil der jungen Generation im südlichen Teil Europas praktisch verlieren, weil sie nach der Schule viele Jahre in die Arbeitslosigkeit fallen. Wir haben bereits vieles ausprobiert. Mit einem Land haben wir sogar einmal ein bilaterales Programm aufgesetzt, um Auszubildende auszutauschen. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir die Bildungswerke in beiden Ländern mit einem dreistelligen Millionenbetrag aus Bundesmitteln ausgestattet. Der Effekt war so, dass ich ihn besser nicht erzähle.

Wir müssen einen Weg finden, um zu einem gemeinsamen Ausbildungsmarkt in Europa zu kommen. Im Norden Europas haben wir zum Teil einen Mangel an Auszubildenden. Im Süden Europas haben wir einen Mangel an Ausbildungsplätzen. Die jungen Leute sind das ganze Jahr über mobil. Warum können sich junge Menschen nicht auch zum Zwecke der Ausbildung überall in Europa bewegen? Sie bewegen sich auch in Deutschland von Mecklenburg-Vorpommern bis nach Baden-Württemberg und leiden darunter keinen nachhaltigen Schaden. Das geht – mehr Mobilität!

Die Arbeitslosigkeit ist ja insgesamt in Europa im Rückgang, auch im Euroraum. Auch die Jugendarbeitslosigkeit ist im Rückgang, aber sie ist noch viel zu hoch. Wir könnten da noch mehr machen.

Natürlich ist es in der Europäischen Union mit 28 Mitgliedsstaaten und dem komplizierten europäischen Regelwerk, vom Primärrecht im Lissabon-Vertrag bis zum unendlich komplizierten Sekundärrecht, nicht leicht, Lösungen zu finden. Das würde auch mit 27 Mitgliedstaaten nicht viel einfacher. Es ist selbst mit den 19 Ländern im Euroraum nicht immer ganz einfach.

Vielleicht haben wir uns auf dem Weg zur ever closer union, die ja von der Gründung der Europäischen Gemeinschaften an das Prinzip war, ein bisschen verheddert und den Kontakt zu den Bürgern in den Mitgliedstaaten ein Stück weit verloren. Vielleicht hat dieses Prinzip zu etwas zu viel Eigenleben in den Institutionen und den Apparaten in Brüssel und Luxemburg geführt.

Das müssen wir versuchen zu ändern. Deswegen sollten wir jetzt nicht so weiter machen wie bisher. Wir sollten uns jetzt auf die wichtigsten Dinge konzentrieren und diese zuerst machen. Ganz nach dem britischen Motto: First things first. Und diese Dinge machen wir notfalls auch mit flexiblen Instrumenten. Dann machen wir es intergouvernemental, wenn es kommunitär nicht geht. Das ist zwar die zweitbeste Lösung, und den europäischen Institutionen gefällt sie gar nicht. Aber: second best is better than nothing – die zweitbeste Lösung ist immer noch besser als gar keine.

Oder wir machen “coalition of the willing” – eine Koalition der Willigen. Als es im letzten Jahr darum ging, die Milliarden an Euro für die Türkei zusammenzubringen, habe ich gesagt: Wenn nicht alle zahlen können, dann sollen die zahlen, die können. Weil wir nicht warten können. Wir können nicht erlauben, dass der Langsamste – aus welchen Gründen auch immer – das Tempo des Geleitzugs bestimmt. Weil sonst der ganze Geleitzug untergehen wird.

Deswegen werbe ich dafür, dass wir mit flexiblen pragmatischen Maßnahmen die vorrangigen Probleme europäisch lösen. Wenn wir das geschafft haben, gewinnen wir wieder mehr Zustimmung bei der Bevölkerung. Dann können wir auch die strukturellen Konsequenzen daraus ziehen. Dann haben wir Europa gerettet.

Meine letzte Bemerkung: Ich war immer überzeugt – und das lehrt auch die Erfahrung –, dass Europa sich in Wahrheit nur in Krisen voran bewegt. Solange es uns gut geht, verändern wir nichts. Wir wollen keine Veränderungen, weil es schwierig mit ihnen ist. Krisen unterstützen Veränderungen. Das ist nicht neu. Das hat schon Karl Popper gesagt. Und, meine Damen und Herren, deswegen ist mir um Europa nicht bange. Die Krise ist so groß. Die Chance liegt ganz nahe!