Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Zeit



Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Zeit über seinen Ruf als Sturkopf, über Selbstdarsteller in der Politik und die neue Freiheit im Alter.

ZEIT: Herr Minister, wie unabhängig sind Sie?

Schäuble: Ich fühle mich frei.

ZEIT: Als Sie Finanzminister wurden, sagten Sie, Sie wollten »loyal, aber unabhängig sein«. Warum mussten Sie Ihre Unabhängigkeit betonen?

Schäuble: Das musste ich nicht. Aber wenn man das Beste zum Erfolg einer Regierung beitragen will, muss man klarmachen, welche Rolle man spielen will.

ZEIT: Was ist Ihre Rolle?

Schäuble: Ich bin Bundesfinanzminister. Ich bin der Älteste im Kabinett. Ich verkörpere sozusagen das Langzeitgedächtnis der Republik. Da ich auch nichts mehr werden muss, habe ich ein größeres Maß an innerer Unabhängigkeit als andere.

ZEIT: Sie sind abhängig von Ihrer Gesundheit.

Schäuble: Da haben Sie recht. Ich habe mich im letzten Jahr, als ich lange im Krankenhaus lag, sehr mit dem Älterwerden beschäftigt. Wie die meisten Menschen hatte ich mich gegen die Einsicht gewehrt, älter zu werden. Allein: Ich muss irgendwann anfangen, dies zu akzeptieren. In dem Moment, in dem man es akzeptiert, merkt man, dass man neue Freiheiten bekommt.

ZEIT: Welche?

Schäuble: Vielleicht liegt meine neue Freiheit darin, mich bescheiden zu können, dankbar zu sein. Ich habe leider weniger Zeit, Disziplin und Kraft auf die Rehabilitation verwendet, als es klug gewesen wäre. Sicher hätte ich noch ein Stück selbstständiger werden können. Das Leben im Rollstuhl wird nicht einfacher, aber ich empfinde keinen Groll. Ich hadere nicht.

ZEIT: Sie sind abhängig von Politik?

Schäuble: Nein. Ich habe Politik immer als etwas empfunden, was ich gerne mache. Es ist meine Leidenschaft.

ZEIT: Und Leiden gehört dazu?

Schäuble: Ich sehe das nicht so heroisch. Ich habe eine Aufgabe, die mich erfüllt, die mich auch fasziniert. Natürlich habe ich mich ein paarmal gefragt: Kann ich das noch? Bisher war meine Antwort jedes Mal »Ja«. Außerdem habe ich mir gesagt: Ist doch prima, wenn der Finanzminister im Krankenhaus liegt – dann können die Kabinettskollegen keine großen Forderungen an ihn stellen.

ZEIT: Beliebig wiederholen lässt sich diese Taktik nicht.

Schäuble: Letztlich hat meine Krankheit die Erfüllung meiner Aufgaben nicht nennenswert behindert. Ich bleibe Finanzminister, solange ich davon überzeugt bin, dass ich der Verantwortung für dieses Amt gerecht werde. Mit dieser Einstellung fühle ich mich ganz wohl. Deswegen bin ich innerlich sehr frei.

ZEIT: Wo endet das Pflichtgefühl, wo beginnt die Abhängigkeit?

Schäuble: Das mit dem Pflichtgefühl wird mir so ein bisschen angehängt. Tatsächlich kann ich gut abspannen. Ich muss auch nicht ständig telefonieren oder faxen, überhaupt nicht! Ich liebe meine Ruhe. Da bin ich kein Protestant im eigentlichen Sinne. Meine Grundausstattung ist: faul und bequem.

ZEIT: Was Sie ganz gut kaschieren.

Schäuble: Ich bin zu einer gewissen Ordentlichkeit erzogen. Mein älterer Bruder Frieder hat über unseren Vater gesagt: Er war ein anständiger Mensch. Das ist auch für mich ein sehr wichtiger Maßstab. Und meine Mutter war ähnlich. Als sie einmal die zwei Groschen für die Parkuhr nicht hatte, fuhr sie am nächsten Tag hin und warf sie nachträglich ein. Das ist süß – oder einfach nur anständig.

ZEIT: Sie wirken auf uns nachdenklich und aufgeräumt zugleich, ein wenig augenzwinkernd und immer noch angriffslustig. In den Medien entstand zuletzt ein anderes Bild: Schäuble ist hart, verbittert und starrköpfig. Welches Bild haben Sie von sich?

Schäuble: Jedenfalls nicht dieses.

ZEIT: Sondern?

Schäuble: Dass ich starrköpfig oder verbittert oder bösartig wäre, ist Quatsch. Leute, die mich kennen, sagen das auch nicht. Ich spotte gern. Ich stelle nur manchmal fest, dass die Leute meine Art von Ironie nicht verstehen. Das ist eine alte Erfahrung. Es muss an mir liegen. Meine Frau sagt immer: Lächle ein bisschen mehr.

ZEIT: Macht Unabhängigkeit einsam?

Schäuble: Ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, ob ich einsam bin.

ZEIT:: Die FAZ hat Sie den »einsamsten Minister der Regierung« genannt.

Schäuble: Nicht alles, was in der FAZ steht, ist richtig.

ZEIT: Sie erleben als Finanzminister immer wieder Situationen, in denen Sie ziemlich allein dastehen, zuletzt beim Koalitionsstreit um die Steuervereinfachungen. Es ging um 300 Millionen Euro [Glossar] und um die Frage, wann die Arbeitnehmer entlastet werden sollen. Eigentlich kein großes Thema, aber auf einmal standen Sie als Blockierer da. Die Fraktionschefs von Union und FDP wollten die Entlastung rückwirkend zum 1. Januar 2011 , Sie dagegen erst zum 1. Januar 2012. Die Regierungsmitglieder der FDP beschimpften Sie als »Delinquent«. In Ihrer eigenen Fraktion warf man Ihnen »Starrsinn« vor.

Schäuble: 300 Millionen Euro sind für den Bundeshaushalt [Glossar] kein Pappenstiel, und das wollte ich klarmachen. Im CDU-Vorstand hatten wir uns bereits geeinigt. Volker Kauder hat mich angerufen und mir zugestimmt. Es gab also keinen Grund, warum ich mich einsam fühlen sollte. Aber schließlich musste sich die Union noch mit ihrem Koalitionspartner FDP auf eine gemeinsame Lösung verständigen. Deshalb kommt die Steuerentlastung nun schon in diesem Jahr, den Haushalt [Glossar] belasten wird sie jedoch erst im nächsten.

ZEIT: Damit haben Sie sich doch durchgesetzt.

Schäuble: Ja, aber Geld im Dezember auszuzahlen, damit es im Januar haushaltswirksam wird, ist die Art von Haushaltspolitik, die ich eigentlich nicht mag. Deswegen habe ich mich lange gewehrt und dann gesagt, wenn die Fraktionen es im Parlament beschließen, kann ich es nicht verhindern.

ZEIT: Wenn die FDP einen politischen Trick nun als Sieg verkauft, was sagt das über die FDP?

Schäuble: Das muss ich nicht kommentieren. Ich habe mir vorgenommen, mich über diese Geschichte nicht weiter zu ärgern. Ich finde es schlicht kein gutes Beispiel für die Art, wie politische Entscheidungen zustande kommen, und zwar in vielerlei Beziehung.

ZEIT: Dass eine Entscheidung im politischen Prozess so deformiert wird, haben Sie sicher nicht zum ersten Mal erfahren. Möglicherweise waren Sie selbst hin und wieder an solchen Entscheidungen beteiligt?

Schäuble: Eine vergleichbare kenne ich nicht. Aber letztlich dreht die Welt sich immer noch. Und am Ende bringt es dem Bundesfinanzminister womöglich sogar noch Vorteile. Denn jetzt haben alle ein schlechtes Gewissen.

ZEIT: Politik und Parteien verlieren immer stärker an Ansehen. Nehmen Sie das als prägender Politiker der letzten Jahre eigentlich persönlich?

Schäuble: Es macht einen schon traurig. Ich denke viel darüber nach, woran es liegt. Ein Grund ist sicher, dass die Menschen das Erreichte als etwas Selbstverständliches ansehen – egal, ob Sie die Wiedervereinigung nehmen oder unseren wachsenden Wohlstand. Das ist der Fluch einer erfolgreichen Politik. Alles, was man schon hat, ist plötzlich nicht mehr so wichtig. Die Menschen sagen dann: Jetzt haben wir andere Sorgen. Gleichzeitig verändert die Welt sich rasant. Die Mechanismen, die zwischen Politik und Gesellschaft wirken, sind andere geworden. Man muss anders kommunizieren. Die Leute suchen sich ihre herausragenden Persönlichkeiten nach anderen Kriterien aus als früher. Gucken Sie sich nur den Zirkus mit Lena auf der einen Seite oder das Phänomen Karl-Theodor zu Guttenberg auf der anderen Seite an.

ZEIT: Schöner Vergleich.

Schäuble: Da gibt es Parallelen. Aber die haben weniger mit den Personen zu tun als vielmehr mit den Medien.

ZEIT: Es hat mit Personen zu tun, die in den Medien besonders gut ankommen. Werden sich in der Politik künftig nur noch die Darsteller durchsetzen?

Schäuble: Das wird man sehen. Unter den Darstellern werden Sie mich nicht finden. Für mich sind und bleiben die Inhalte entscheidend. Aber ich weiß, ich bin 68, und meine Gesundheit ist begrenzt.

ZEIT: Sie haben so viele Politiker kommen und gehen sehen. Was ist bei Guttenberg anders?

Schäuble: Er hat eine Menge spezifischer Fähigkeiten.

ZEIT: Er kann reden.

Schäuble: Ja, das beherrscht er offenbar gut. Er hat etwas, was die Leute fasziniert. Das ist im Übrigen auch bei seinem Vater der Fall. Aber ich finde nicht, dass er ein außeroder überirdisches Phänomen ist. Ich schätze ihn, weil er eine Menge auf den Weg gebracht hat: Nehmen Sie die Grundentscheidung zugunsten der Bundeswehrreform oder dass er Afghanistan als Kampfeinsatz bezeichnet hat. Damals, als ich das als Innenminister gesagt habe, hieß es, der Schäuble ist verrückt.

ZEIT: Empfinden Sie als Parteivorderer eine besondere Verantwortung, den hoffnungsvollsten Nachwuchspolitiker der Union nicht zu beschädigen?

Schäuble: Ich will als Finanzminister überhaupt niemanden beschädigen.

ZEIT: Im Augenblick will der Verteidigungsminister nicht so viel sparen, wie er laut Koalitionsbeschluss sparen müsste. Wenn Sie ihn nicht beschädigen wollen, heißt das: Er bekommt einen Sparrabatt?

Schäuble: Auch ich kann die Grundrechenarten nicht außer Kraft setzen. Guttenberg hat ursprünglich mit der Vorstellung angefangen, die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten auf 163 500 zu reduzieren. Dann sind 185 000 daraus geworden. Das war politisch so gewollt, kostet aber mehr. Deshalb lautet unser gemeinsamer Beschluss: bis zu 185 000 Soldaten im Rahmen der geltenden Finanzplanung. Wer jetzt daraus die Schlussfolgerung zieht, dazu brauche man mehr Geld, wird lernen müssen: Das ist nicht das, was beschlossen wurde.

ZEIT: Also kein Entgegenkommen?

Schäuble: Die Koalition hat beschlossen, dass es bei der geltenden Finanzplanung bleibt. Was wir auf keinen Fall machen können, ist, dass wir die Nettoneuverschuldung erhöhen.

ZEIT: Sie haben gesagt, Sie verkörperten im Kabinett so etwas wie das Langzeitgedächtnis der Republik. Welche Erfahrungen aus der alten Bundesrepublik sind heute noch bedeutsam?

Schäuble: Die Formulierung mit dem Langzeitgedächtnis war schon gut, das jetzt zu hinterfragen ist fies. Herr Brüderle, Frau Leutheusser und ich sind die personalisierte Erinnerung an die Zeit vor der Wende, an die Zeit der deutschen Teilung. Und für einen Kabinettsabend ist es nett, wenn ein paar die alten Geschichten erzählen können.

ZEIT: Welche Geschichte erzählen Sie am liebsten?

Schäuble: Ich kann zum Beispiel erzählen, wie es war, als ich in den achtziger Jahren Chef des Kanzleramts war.

ZEIT: Sie könnten auch erzählen, wie sich Ihre Beziehung zu Helmut Kohl dann in den neunziger Jahren weiterentwickelt hat. Anfang Februar lief im Fernsehen ein Film aus der Reihe Duelle von Stephan Lamby über diese Zeit. Haben Sie ihn gesehen?

Schäuble: Nein. Da war ich unterwegs.

ZEIT: Werden Sie ihn noch anschauen?

Schäuble: Wozu? Meine Frau hat ihn gesehen. Aber das Kapitel ist für mich abgeschlossen. Ich habe kein Problem mehr mit Helmut Kohl. Außerdem ist der Film ja ein klassisches Beispiel dafür, dass Sie bestimmte Vorurteile nicht wegbekommen.

ZEIT: Also kennen Sie den Film doch?

Schäuble: Ich ahne, was da gezeigt wird. Schon der Titel impliziert ja, wir hätten uns duelliert. Das ist einfach Quatsch. Ich wollte Kohl nicht stürzen, auch nicht 1998, als sich abzeichnete, dass wir die Bundestagswahlen nicht mehr gewinnen würden. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung – und in der von Helmut Kohl – steckt fest: Schäuble wollte Kanzler werden; wäre Kohl im Frühjahr 1998 gegangen, wäre Schäuble Kanzler geworden. Ich sage: Schäuble wäre sowieso nicht Kanzler geworden. Auch mit einem Kandidaten Schäuble hätten wir die Wahl 1998 nicht gewonnen. Vielleicht hätten wir statt einer rot-grünen Regierung eine Große Koalition bekommen. Ob das besser gewesen wäre, ist eine offene Frage.

ZEIT: Man tritt Ihnen doch nicht zu nahe, wenn man unterstellt, dass die Union 1998 mit Ihnen als Kandidat größere Chancen gehabt hätte.

Schäuble: Vielleicht hätten wir nicht so hoch verloren. Aber dass wir gewonnen hätten, glaube ich nicht. Zu mir sind damals die Leute aus der Union scharenweise gekommen und haben gesagt, man muss mit dem Kohl reden. Darauf habe ich gesagt: Na, red doch mit ihm! Warum ausgerechnet ich? Ich habe es dann gemacht, aber genützt hat es nichts.

ZEIT: An Ostern 1998, wenige Monate vor der Bundestagswahl, reisen Sie zu Kohl in den Urlaub und bitten ihn, zu Ihren Gunsten zu verzichten. »Komm, lass es mich machen«, sagen Sie. Aber er lässt Sie nicht. Und Sie kommen von ihm nicht los.

Schäuble: Ich habe schon damals, vor meiner Reise, zu meiner Frau gesagt: Wenn ich mit ihm rede, wird unser Verhältnis von diesem Moment an ein anderes sein.

ZEIT: Warum haben Sie es trotzdem getan? Aus Pflichtgefühl oder aus der Überzeugung, es besser zu können?

Schäuble: Ich wusste, dass wir mit ihm nicht mehr gewinnen würden, und ich wollte mir nicht vorhalten lassen, ich sei auch zu feige, ihm das zu sagen. Aber ich wusste bereits vorher, dass ich nichts erreiche.

ZEIT: Wenn Sie an die Zeit bis 1998 denken: Was ist der richtige Begriff, um Ihre Zusammenarbeit zu umschreiben?

Schäuble: Wir hatten ein enges Verhältnis, und Kohl konnte mir vertrauen. Er wusste, dass ich ihn nicht hintergehen würde. In meiner überheblichen Art habe ich manchmal gesagt: Ich mache es so, wie er entscheiden würde, wenn er es verstehen würde. Das hat gut funktioniert, es war nicht gegen sein Interesse, genauso wenig wie gegen meines, und für das Land war es auch nicht schlecht. Wir waren alles in allem eine ganz gute Regierung.

ZEIT: Haben Sie je bereut, dass Sie loyal waren?

Schäuble: Nein. Ich war sicherlich ein Abgeordneter, der nicht unterdurchschnittlich qualifiziert war. Aber dass ich eine solche politische Karriere machen würde, hatte ich nicht erwartet und mir auch gar nicht vorgestellt. Das verdanke ich schon der engen Zusammenarbeit mit Kohl.

ZEIT: Dann kam die SpendenafFäre. Und damit der Bruch.

Schäuble: Als es zum Desaster kam, war klar, dass die Jüngeren sagen: Schäuble ist viel zu sehr drin, der kann diesen Bruch nicht vollziehen. Ich habe ja versucht, den Ablöseprozess zwischen der CDU und ihrem Ehrenvorsitzenden einigermaßen hinzubekommen, aber das hat zu furchtbaren Verletzungen geführt. Jeder im CDU-Präsidium, der ihm damals gesagt hatte, er solle die geheimen Spender nennen oder seinen Ehrenvorsitz ruhen lassen, war in Kohls Augen ein Verräter oder Feigling; denn alle verdankten doch alles ihm.

ZEIT: Hat Kohl Sie überrascht mit dieser Wut, die damals aus ihm herausgebrochen ist? Haben Sie ihn da noch einmal neu kennengelernt?

Schäuble: Nein, überhaupt nicht.

ZEIT: Sie haben immer schon geahnt, dass er dieses Potenzial hat?

Schäuble: Nein, das nicht. Aber ich habe verstanden, dass er in der Phase, wo sein Lebenswerk zertrümmert wurde, gesagt hat: Wenn es mich das kostet, dann reiße ich euch alle mit. Ich war immer ein guter Kohl-Erklärer, aber das ist alles abgeschlossen. Inzwischen tut er mir leid. Ich wünsche ihm, dass er seine alten Tage einigermaßen gut zurande bringt. Für mich war unsere Beziehung zu Ende, als er andeutete, ich sei doch auch jemand, von dem man nicht wissen könne, ob er nicht auch krumme Sachen gemacht habe.

ZEIT: Sie hatten 1994 eine 100 000-Mark-Spende von dem Lobbyisten Karlheinz Schreiber angenommen, deren Verbleib umstritten ist.

Schäuble: Müssen wir jetzt wirklich die alten Geschichten aufwärmen? Das interessiert niemanden mehr.

ZEIT: Sie konnten damals nicht beweisen, dass Sie die Spende ordnungsgemäß an die CDU-Schatzmeisterin Brigitte Baumeister weitergeleitet hatten. Dadurch wurden Sie angreifbar. Und Kohl, der wegen seiner Spenden selbst am Abgrund stand, wollte Sie mit hinunterreißen.

Schäuble: Deswegen habe ich ihm gesagt: Helmut, ich habe genügend Zeit in meinem Leben mit dir verbracht – nun ist es genug! Dem füge ich nichts mehr hinzu. Punkt. Aus.

ZEIT: Sie vermuten, dass Kohl mit Schreiber paktiert hat, um Sie fertigzumachen?

Schäuble: Seine Beziehung zu Schreiber kann ich mir ungefähr erklären, da habe ich keine offenen Fragen. Ich habe mich nur geärgert, dass ich das nicht früher begriffen habe.

ZEIT: Wo lag Ihr Fehler während der Affäre?

Schäuble: Ich habe im Bundestag falsch reagiert, als ich auf einen Zwischenruf hin nichts von der Spende gesagt habe. Aber das war mir in der Situation gar nicht bewusst. Ich hatte im Auftrag der Partei 1994 ein Spendenessen, an dem Herr Schreiber teilnahm. Am nächsten Tag kam er in mein Büro und sagte: Sie gefallen mir, hier sind 100 000 Mark, verwenden Sie sie, wofür Sie wollen. Klar, sagte ich, es geht gleich an die Partei, vielen Dank. Ich habe die Spende an die Schatzmeisterin weitergeleitet und noch gesagt: Schick dem Schreiber gleich eine Quittung, damit er weiß, ich habe das ordnungsgemäß für die Partei verbucht. Ein paar Wochen später hat Frau Baumeister noch gesagt: Kannst du ihm nicht ein Buch von dir mit einer Widmung schicken? Das hat ja alles später eine Rolle gespielt.

ZEIT: Wann sind Sie dann wieder auf Schreiber gestoßen?

Schäuble: Jahre später lese ich, die Staatsanwaltschaft sucht den Herrn. Als ich Frau Baumeister darauf ansprach, tat sie so, als hätte sie den Namen noch nie gehört. Irgendwie kam mir das komisch vor. Es hat längere Zeit gedauert, bis sie dann schließlich zugab: Der wollte keine Quittung, und deshalb ist das Geld auch nicht in den Rechenschaftsbericht der Partei gekommen. Ich hätte natürlich damals Anzeige beim Bundestagspräsidenten erstatten können. Aber musste ich das wirklich? Das ist meine Geschichte, und das hängt mir mein Leben lang nach. Deswegen bin ich sauer, und deswegen will ich nichts mehr davon hören.

ZEIT: Es lässt Ihnen keine Ruhe.

Schäuble: Doch.

ZEIT: Sie reagieren sehr emotional.

Schäuble: Schließlich wurde ich Opfer einer Intrige mit kriminellen Elementen!

ZEIT: Und trotzdem sagen Sie heute: Ich will davon nichts mehr wissen.

Schäuble: Wie würden Sie es denn machen? Ich habe ein Buch geschrieben, da steht das alles drin. Wissen Sie, es gibt ein paar Pointen in der Geschichte, die sehr bitter sind. Eine Zeit lang haben die Leute sogar die Straßenseite gewechselt, wenn meine Frau ihnen beim Einkaufen entgegenkam. Das war nicht schön. Dass insinuiert wurde, ich hätte Geld unterschlagen, das hat mich sehr verletzt. Das ist eine Sauerei und trifft nicht zu.

ZEIT: Ihr Bruder Thomas hat gesagt: Mir wäre das mit Kohl nicht passiert.

Schäuble: Es ist wahr, gegenüber Kohl war er immer kritisch. Ob es ihm nicht passiert wäre, weiß ich nicht. Mit einiger Betroffenheit habe ich den Vorabdruck des Buches von Walter Kohl gelesen. Dass der Sohn in der Krise war, habe ich auch nicht gewusst. Jetzt schreibt er offen darüber. Ob sich ein Buch empfiehlt, um sich am Vater abzuarbeiten, weiß ich nicht.

ZEIT: Sie haben selbst vier Kinder. Wie weit hat der Job als Politiker Sie als Vater deformiert?

Schäuble: Das weiß ich nicht. Man wird ja älter, während die Kinder erwachsen werden. Aber ich bemühe mich, offen zu bleiben für Veränderungen, die Jüngere den Alteren besser erklären können.

ZEIT: Als Sie 2009 Finanzminister wurden, betonten Sie Ihre Loyalität. Hätte die Kanzlerin daran zweifeln können?

Schäuble: Ich sagte ihr: »Sie wissen, was Sie sich antun. Sie werden keinen pflegeleichten Minister haben. Bequem werde ich nicht sein, aber ich bin loyal.« Das habe ich hinreichend bewiesen. Als ich 2002, noch in der Opposition, den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden machen sollte, hat mich Angela Merkel gefragt: »Geht denn das? Sie waren mein Chef, jetzt bin ich l\\c Chef?« Ich habe ihr damals gesagt, dass ich darin kein Problem sehe. Es ist angenehm, mit Frau Merkel zusammenzuarbeiten.

ZEIT: Vielleicht war es wichtig, Ihre Loyalität zu betonen, weil Sie wussten, was Sie anderen würden zumuten müssen?

Schäuble: Wir waren in der Finanzpolitik [Glossar] relativ konsequent.

ZEIT: Für wen sind Sie eine Zumutung?

Schäuble: Den Bürgern mute ich zu, dass die zu hohe Neuverschuldung abgebaut wird. 80 Prozent der Bevölkerung finden das richtig. Ich mute deshalb allen Kabinettsmitgliedern die Einsicht zu, dass zwei plus zwei vier ergibt. Die Politik möchte immer, dass zwei und zwei vierzig ist. Deshalb verweise ich immer auf den Koalitiönsvertrag und die Schuldenbremse[Glossar]. Wenn wir uns daran halten wollen, dann wird der Spielraum für Steuerentlastungen nicht so groß sein. Daraus ist der Vorwurf erwachsen, ich wolle die FDP beschädigen. Das ist Unsinn! Ich wünsche der FDP alles Gute. Mir ist es nicht so wichtig, ob die FDP in den Meinungsumfragen zwei Prozent mehr hat und dafür wir zwei Prozent weniger haben oder umgekehrt. Wichtig ist mir, dass die Regierung ordentliche Arbeit macht.

ZEIT: Die FDP scheint sich Ihrer wohlwollenden Fürsorge nicht ganz so sicher zu sein.

Schäuble: Diese Regierung hat sich nun einmal vorgenommen, die Staatsverschuldung nachhaltig zu reduzieren, um damit die Basis für langfristig stabile wirtschaftliche und soziale Verhältnisse zu haben. Das ist bisher ganz gut gelungen. Aber in der Erfolgsbilanz scheint das nicht zu zählen. Wir reden zu viel über das, was nicht oder noch nicht erreicht ist.

ZEIT: Politik lebt doch von Perspektiven. Was wollen Sie noch erreichen? Was ist das übergeordnete Ziel Ihrer Politik?

Schäuble: Die Bundesrepublik Deutschland soll unter den Bedingungen der Globalisierung[Glossar] und eines rasanten gesellschaftlichen Wandels das, was sie im letzten halben Jahrhundert erreicht hat, auch für die Zukunft erhalten. Das ist das wichtigste politische Ziel. Dazu muss die europäische Einigung weiter vorangebracht werden. Politische Führungsverantwortung bedeutet deshalb, die Bevölkerung wieder und wieder davon zu überzeugen, dass Investitionen [Glossar] in die Zukunft Europas, trotz all seiner Unvollkommenheit, all seiner Kompliziertheit und all seines bürokratischen Unsinns, auch gut für die Zukunft des Landes sind.

ZEIT: Die Bevölkerung scheint das nicht zu glauben.

Schäuble: Europa voranzubringen ist sehr schwierig. Deshalb ärgert es mich, dass die europäischen Institutionen, die Kommission wie das Parlament, kläglich dabei versagt haben, für Fortschritte der europäischen Integration zu werben. Die EU-Parlamentarier hört man eigentlich nur dann, wenn sie wieder einmal erklären, was sie nicht mitmachen, weil sie nationale Interessen vertreten. Ihre eigentliche Aufgabe wäre, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das wichtigste nationale Interesse eine gelingende europäische Integration ist.

ZEIT: Sie gelten als der letzte Europäer im Kabinett. Welches Europa wünschen Sie sich?

Schäuble: Ein Europa der Vielfalt, in dem die Dinge, die Europa nur gemeinsam machen kann, auch tatsächlich gemeinsam angegangen werden. Vieles, was heute noch in der alleinigen Zuständigkeit der Nationalstaaten liegt, muss ganz neu zugeordnet werden. Dann müssen auch die Entscheidungen auf europäischer Ebene genauso demokratisch legitimiert werden, wie das heute im nationalen Rahmen der Fall ist.

ZEIT: Sie wünschen sich, dass französische, spanische und griechische Parlamentarier mit darüber entscheiden, wie viel Steuern die Deutschen bezahlen und wann sie in Rente gehen?

Schäuble: Ich wünsche mir, dass sich die Staaten Europas enger koordinieren. Und ich wünsche mir ein Europa, das sich der Realität der Globalisierung stellt. Wir sollten uns realistischerweise dazu bekennen, dass für Deutschland mehr als anderthalb bis zwei Prozent Wachstum weder nachhaltig möglich noch unbedingt wünschenswert sind.

ZEIT: Ist 2011 das Entscheidungsjahr für die Unabhängigkeit des Euro?

Schäuble: Diese Überschrift ist einem nachdenklichen Gespräch nicht angemessen. Das ist eine immerwährende Aufgabe.

ZEIT: Was wird Deutschland aufgeben müssen, um in Europa mehr zu erreichen?

Schäuble: Wir können Europa nicht schaffen, wenn wir sagen, dass alle so werden sollen wie wir. Sie können eine Gemeinschaft nicht voranbringen, wenn Sie fest davon überzeugt sind, dass Sie alles richtig und die anderen alles falsch machen. Die Unterschiede zu akzeptieren, das wird das Wichtigste sein. Das fällt zugegebenermaßen nicht immer leicht.

ZEIT: Wie passt das zum Konzept der Wirtschaftsregierung, wie es die Kanzlerin jetzt propagiert? Dahinter verbirgt sich doch, dass die anderen Staaten Europas sich am besten an uns orientieren. Europa soll deutscher werden.

Schäuble: Sie unterschätzen die Kanzlerin. Natürlich sollte man versuchen, möglichst viel von dem, was man für richtig hält, in Europa durchzusetzen. Aber die CDU unterliegt in ihrer Breite nicht der Vorstellung, es müsse in Europa alles so sein wie in Deutschland.

ZEIT: Sieht Ihr Koalitionspartner das genauso?

Schäuble: Die FDP ist auch auf diesem Weg. Manchmal klingt sie ein bisschen euroskeptisch – vielleicht auch, weil manche meinen, die FDP müsse diese Karte ziehen. Doch ich hoffe, dass die FDP dieser Versuchung widersteht.

ZEIT: Sie haben bereits im vergangenen Frühjahr für mehr europäische Integration geworben – auch gegen Widerstand in den eigenen Reihen. Inzwischen ist vieles, was Sie forderten, offizielle deutsche Regierungsposition. Was sagt das über die Regierung aus?

Schäuble: Zu meiner inneren Freiheit gehört auch, dass ich nie sage, ich hätte es ja schon immer gewusst. Das ist nicht hilfreich.

ZEIT: Norbert Blüm hat einmal gesagt: Politiker scheitern an ihren Stärken und nicht an ihren Schwächen. Hatte er recht?

Schäuble: Stärken sind immer auch Versuchungen. Daran kann man scheitern. Aber wenn Sie nichts können, scheitern Sie an Ihren Schwächen. Das ist noch schlechter.

Das Gespräch führten Marc Brost und Matthias Geis.

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