Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der griechischen Tageszeitung TA NEA



Herr Dr. Schäuble, der aktuelle Anlass des Interviews ist die Tatsache, dass die finanzpolitische Überwachung Griechenlands durch die EU-Kommission im kommenden August eingestellt wird, Griechenland lässt die Phase der Schuldenkrise endgültig hinter sich. Wie nehmen Sie diese Entwicklung auf?

Ganz so euphorisch wie Sie bin ich nicht. Die Krise ist noch nicht endgültig ausgestanden – gerade im Hinblick auf die aktuelle Situation. Aber es stimmt: Griechenland hat viel erreicht! Das zeigt doch, dass die ganze Arbeit nicht umsonst war. Wir mussten Griechenland viel zumuten, aber vor allem hat Griechenland sich selbst viel zugemutet. Der Preis für eine interne Abwertung, die Griechenland leisten musste, war für die Bevölkerung sehr hoch. Aber das war die Entscheidung der Griechen, nicht der anderen Europäer.

Bei vielen Griechen herrscht eine andere Meinung; dass es die Entscheidung des starken Mannes in der Eurogruppe gewesen ist. Nämlich Ihre.

Ja, ich weiß schon. Aber derjenige, der den Griechen am meisten geschadet hat, war – wie der damalige Vorsitzende der Eurogruppe über die Zeit geschrieben hat – ein griechischer Finanzminister, nicht ein Deutscher.

… sie meinen Varoufakis…

Das Problem war, dass Griechenland unter falschen Voraussetzungen in der Eurozone Mitglied geworden ist. Georgios Papakonstantinou (eh. Finanzminister) hat es genau beschrieben. In Griechenland hat man dann aber gesagt, die Schuldigen sitzen in Brüssel und Berlin. Damit muss man leben. In Wahrheit wollte ich Griechenland immer helfen – und wir haben Griechenland sehr geholfen. Ich bin da mit mir im Reinen und ich glaube, dass auch viele in Griechenland es verstanden haben. Wir stehen im Euroraum jetzt vor neuen, großen Herausforderungen, und ich habe wohl zur Kenntnis genommen, dass Griechenland nicht mehr im Hauptfokus ist. Das zeigt, dass die Reformen, die Griechenland leisten musste, nicht vergeblich gewesen sind. Es ist nicht alles gut, aber vieles ist besser geworden.

Wann war Ihnen die volle Dimension der Griechenland-Krise bewusst geworden? Es gab schon damals den Vorwurf gegen Merkel und die damalige Bundesregierung, dass sie nicht schnell auf die heranwachsende Krise reagiert hatten, weil sie die Wahlen in NRW abgewartet hatten.

Ich war von Anfang an derjenige, der Griechenland helfen wollte. Doch sowohl im Rahmen der damaligen Koalition, als auch durch die deutsche Gesetzgebung, die dem Finanzminister nur einen begrenzten Spielraum für Entscheidungen in der Eurogruppe ließ, war das nicht so stark möglich, wie ich es mir gewünscht hätte. So unterschiedlich kann die Wahrnehmung auf eine Situation sein …

Wie sieht es heute aus?

Ich habe es bereits gesagt: wir stehen im Euroraum vor neuen, großen Herausforderungen. Aber Griechenland sieht sich zudem mit der Tatsache konfrontiert, dass die Türkei ihren Einfluss, den sie durch den russischen Überfall auf die Ukraine gewonnen hat, strategisch – in einem ruppigen Maße – für sich zu nutzen sucht. Das ist nicht neu. Aber wir müssen alles daran setzen, dass das Prinzip, Grenzen nicht mit militärischen Mitteln einseitig zu verschieben, gilt. Wir Deutsche haben unsere Lehre nach der Katastrophe zweier Weltkriege gezogen – erst mit Frankreich, dann mit Polen und Tschechien: wir streiten nicht mehr über Grenzen, wir bringen Europa zusammen.

Das Problem Griechenlands ist es, dass es als Nachbarn nicht Dänemark, sondern die Türkei und Erdogan hat, der die Souveränität eines EU-Mitglieds infrage stellt.

Und eines NATO Partners! Im Augenblick ist es aus den beschriebenen weltpolitischen Gründen eine schwierige Lage. Deswegen ist es auch gut, dass die griechische Regierung, der Ministerpräsident Mitsotakis, zurückhaltend reagiert. Ich habe ihn als Minister unter Premier Samaras kennengelernt. Er war mir damals schon als sehr konstruktiver Minister aufgefallen – ich schätze ihn also schon lange.

Kehren wir 10 Jahre zurück. Ein Höhepunkt der Krise war der Schuldenschnitt zur Zeit des 2. Programms, den Sie mit dem damaligen griech. Finanzminister Venizelos vereinbart haben. Das ist der größte Schuldenschnitt der Geschichte. Dennoch: kommunikativ ist es untergegangen.

Das ist wahr. Ich habe früh für einen Schuldenschnitt gekämpft und musste mich dabei gegen teils massiven Widerstand vor allem der EZB durchsetzen. Am Ende gab es einen Schnitt von 52%, aber nur für die privaten, nicht die öffentlichen Gläubiger. Und da lag ein Problem.

Wie war ihr Verhältnis zu Venizelos?

Ich erinnere mich sehr gut an Venizelos. Ich bin mit ihm gut ausgekommen, er hat sich aus meiner Sicht alle Mühe für Griechenland gegeben. Ich habe ihm aber schon früh gesagt: Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ihr tretet Entscheidungen treuhänderisch ab, oder ihr müsst für eine gewisse Zeit aus dem Euro austreten und wir helfen euch; wir lassen euch nicht allein. Beides lehnte er aus guten Gründen ab. Aber der Preis, den Griechenland bezahlt hat, war eben hoch.

Sie sind sehr früh auf die Idee gekommen, Griechenland aus dem Euro vorübergehend austreten lassen. Einen entsprechenden Vorschlag haben Sie schon an Ihren damaligen Kollegen Vangelis Venizelos gemacht, er hatte es abgelehnt. Es war das legendäre Abendessen im polnischen Wrozlaw am 16. September 2011?

Das Gespräch war früher, in Berlin. Er war frisch im Amt, wir waren zu viert, ich hatte den Staatssekretär Jörg Asmussen dabei, ich weiß nicht, wen Venizelos dabei hatte…

… den Georgios Zanias…

… kann sein, ich bin mit den griechischen Namen nicht so gut (lacht). Wir waren in einem guten Restaurant, aber Venizelos war nicht besonders am Essen interessiert. Wir haben den ganzen Abend sehr offen miteinander geredet. Die Ergebnisse sind bekannt. Mein Bestreben und mein Motiv waren immer zu helfen. Ich wollte Griechenland und der griechischen Bevölkerung nie schaden. Mir haben viele Griechen schon gesagt: „wir wissen, dass Sie nicht unser Problem sind, man macht Sie zum Sündenbock“. Das muss man in der Politik ertragen.

Der Juli ist ein Schicksalsmonat für Griechenland. Jetzt Juli 2022 sprechen wir über das Ende der Überwachung, aber im Juli 2015 war der Höhepunkt der Krise mit dem Referendum in Griechenland und der Entscheidung über ein 3. Programm. Wie nah an einem Grexit war Griechenland damals?

Die übergroße Mehrheit der Finanzminister der Eurozone hatte diese Empfehlung gegeben. Und sie wissen, dass auch in Griechenland manche durchaus gesagt haben, es wäre besser. Aber es war auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, aus gut erwogenen Gründen, nicht durchsetzbar. Dann hat Tsipras mit der Ausrufung von Neuwahlen einen mutigen Schritt ergriffen und durchgesetzt, dass er für die gegenteilige Politik, für die er gewählt wurde, wieder eine Mehrheit bekommt. Und er hat beachtliches geleistet, was der nachfolgenden Regierung ermöglicht hat, auf dieser Grundlage Griechenland ein stückweit zu stabilisieren. Dafür muss man Respekt haben.

Hätten Sie, aus heutiger Sicht, in der Griechenlandkrise etwas anders gemacht?

Ich bin immer noch der Meinung, dass diejenigen, die die Zuständigkeit für Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik haben, die notwendigen Entscheidungen für einen soliden Haushalt und nachhaltiges Wachstum treffen müssen. Denn das ist die Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit. Diese Voraussetzungen hat Griechenland, als es Mitglied im Euro wurde, nicht erfüllt. Und weil im Euroraum zwar die Währung eine gemeinsame ist, aber die nationale Politik differenziert, musste man in der Krise das Prinzip der Konditionalität anwenden – das wurde natürlich als übergriffig empfunden.

Befürchten Sie eine neue Schuldenkrise aufgrund der Ausgaben für die Folgen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine?

Das kann man derzeit nicht ausschließen, zumal die Eurozone nicht mehr von der Dynamik und der Stabilität der deutschen Wirtschaft profitieren kann, wie im letzten Jahrzehnt.

Sie sind ein Kind des Kalten Krieges, geboren 1942 im 2. Weltkrieg. Wie erleben Sie den Ausbruch des Krieges in der Ukraine, mitten in Europa? Putin marschiert in der Ukraine ein und die NATΟ baut ihre schnelle Eingreiftruppe auf 300.000 aus. Sind es Vorboten des 3. Weltkriegs?

Angesichts des aggressiven Verhaltens von Putin ist es der richtige Weg deutlich zu machen, dass wir gewillt sind, die Werte unserer freiheitlichen Demokratien wieder glaubhaft zu verteidigen.

Bestandaufnahme Europas heute: Europa militärisch von Russland bedrängt, politisch von Amerika und ökonomisch von China. Wird Europa diesen Kampf bestehen?

Wir sind stärker, wenn wir nur wollen. Die freiheitlichen Ordnungen sind am Ende den Diktaturen überlegen. Der Sowjetkommunismus musste in Berlin eine Mauer bauen. Hier wo wir jetzt sitzen, war eine Mauer. Nicht, weil wir die Sowjetunion bedroht hatten, sondern weil die Menschen nicht in einer Diktatur leben wollten. Wir mussten keine Mauer bauen, um die Menschen bei uns zu halten. Wenn wir uns in der freien Welt auf unsere Stärken besinnen, werden wir diese Auseinandersetzung bestehen – ohne dass sie unverantwortlich eskaliert.

Hatten Sie jemals daran gedacht, dass Deutschland sich von Russland total abkoppelt?

Nein, ich habe gehofft, dass es nicht mehr der Fall sein wird. Im Kalten Krieg war die Abwesenheit von Krieg auf gegenseitige Vernichtungsfähigkeit gegründet worden. Nicht sehr bequem, aber es hat funktioniert. Und nach 1990 haben wir gedacht, das brauchen wir alles nicht mehr und haben den Satz der alten Römer vergessen: Si vis pacem para bellum – wenn du in Frieden leben willst, musst du auf den Krieg vorbereitet sein. Wir sind in Deutschland von Freunden umgeben, aber Europa ist es nicht. Und jetzt müssen wir dafür arbeiten, dass es im Interesse aller ist, dass Ziele nicht mit Gewalt durgesetzt werden.

Ist es auch eine Selbstkritik für die Haltung der deutschen Politik gegenüber Putin bis zum Krieg in der Ukraine?

Die deutsche Politik hat Fehler gemacht. Ich habe bereits als ich noch Mitglied der Regierung war deutlich gemacht, dass ich es nicht für richtig halte, dass wir Nord Stream 2 gegen die Vorbehalte aller europäischen Partner und den USA durchsetzen. Wenn wir ein einiges, handlungsfähiges Europa wollen, müssen wir uns selbst auch mit unseren Entscheidungen an den anderen ausrichten.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Wie ist das Leben eines Vollblut-Politikers, der bis vor Kurzem fast allmächtig war, sich jetzt aber in die zweite Reihe zurückziehen muss?

Allmächtig ist nur der liebe Gott (lacht), aber das ist Politik, das muss man akzeptieren. Politik in der Demokratie ist Gestaltungsmacht auf Zeit. Alles hat seine Zeit. Ich hatte 2017 entschieden nicht mehr in der Regierung zu verbleiben und war anschließend 4 Jahre lang Bundestagspräsident. Nun bin ich wieder einfacher Abgeordneter. So habe ich angefangen.

Welches Buch nehmen Sie für Ihren Urlaub mit?

Ich habe gerade ein Buch eines Freiburger Historikers für die Zeit nach dem Versailler-Vertrag bekommen, das zeigt ziemliche Parallelen zu den jetzigen Entwicklungen. Ansonsten werde ich mir in der örtlichen Buchhandlung von der guten Buchhändlerin Ratschläge geben lassen, was man in diesem Sommer lesen kann.

Herr Dr. Schäuble, vielen Dank für dieses Interview.