Die Schicksals-Gemeinschaft



Auf Wolfgang Schäuble wurde geschossen. Oskar Lafontaine wurde beinahe erstochen.

Im stern sprechen die zwei Spitzenpolitiker erstmals gemeinsam darüber, wie die Attentate ihr Leben verändert haben.

Interview JENS KÖNIG, AXEL VORNBÄUMEN

Was wäre aus Ihnen geworden, wenn es die Attentate auf Sie nicht gegeben hätte? Gäbe es heute, Herr Schäuble, eine Große Koalition mit Ihnen als Kanzler und Oskar Lafontaine als SPD-Außenminister? WOLFGANG SCHÄUBLE: Das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Ich glaube nicht mal, dass die beiden Attentate die Wahlergebnisse damals beeinflusst haben. In meinem Wahlkreis habe ich ein paar Prozent Stimmen mehr bekommen, aber sonst – nein. OSKAR LAFONTAINE: Die Frage zielt eher darauf ab, ob wir beide ohne das Attentat eine andere Laufbahn genommen hätten. Das kann man nicht ausschließen. Diese Grenzerfahrung hat unser Leben beeinflusst und verändert, auch das politische Leben.

Hadern Sie mit dem Schicksal?

SCHÄUBLE: Nein. Ich habe merkwürdigerweise nie gehadert. Ich sagte mir immer, es war ein Unfall, so etwas kann passieren. Man glaubt gar nicht, wie anpassungsfähig der Mensch ist. Wenn ich mir vorher überlegt hätte, ich müsste mal im Rollstuhl sitzen – um Gottes willen ! Völlig unvorstellbar! Ich war zuvor in meinem Leben nie im Krankenhaus, außer bei meiner Geburt. Heute hat die Vorstellung, ins Krankenhaus zu gehen, sogar etwas Tröstliches an sich. Ich meine das jetzt gar nicht so fromm. Aber der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat mal gesagt: Der Mensch kriegt immer so viel Kraft, wie er braucht aber erst dann, wenn er sie braucht. LAFONTAINE: Ich hatte keine Veranlassung zu hadern. Bei mir machte sich bald das Gefühl breit: Du bist glücklich davongekommen.

Die Attentate auf Sie im Vereinigungsjahr 1990 sind kurz hintereinander passiert, im April und im Oktober. Haben Sie Ihre Schicksale innerlich mal verglichen? LAFONTAINE: Ja, ich schon. Ich habe Wolfgang Schäuble Ende November 1990 im Krankenhaus besucht. Wir haben uns lange unterhalten. Auch später habe ich mich immer wieder damit auseinandergesetzt: Wie würde es dir gehen, wenn es dich so erwischt hätte wie Wolfgang Schäuble? Ich war dankbar, dass meine Verletzung weitaus geringere Folgen hatte. Herr Schäuble, Sie sitzen seit dem Attentat im Rollstuhl. Oskar Lafontaine hat von der Messerattacke eine lange Narbe am Hals. Haben Sie jemals gedacht, der Lafontaine hat es glücklicher getroffen?

SCHÄUBLE: Nein, überhaupt nicht. Das wäre ein unsinniger Gedanke.

LAFONTAINE: Ich dagegen hatte Wolfgang Schäuble gegenüber fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen, obwohl es völlig unangebracht war. Das ist ja auch die Frage der Theodizee: Warum bist du davongekommen, während es anderen viel schlechtergeht?

SCHÄUBLE: Ich habe mich das nie gefragt: Warum ich? Wenn Sie Opfer eines Unfalls werden, können Sie doch nicht allen anderen böse sein, die nicht auch Opfer des Unfalls geworden sind.

Aber der Gedanke „Warum gerade ich?“ ist doch zutiefst menschlich,

SCHÄUBLE: Ich habe darüber nachgedacht, warum ich kaum psychische Schwierigkeiten hatte, den Unfall zu verarbeiten. Vielleicht lag es daran, dass ich das Glück hatte, politisch weitermachen zu können. Ich kenne inzwischen viele Rollstuhlfahrer mit ihren ganz unterschiedlichen Geschichten. Darunter sind einige, die ihren Beruf verloren haben und ganz auf sich selbst zurückgeworfen sind. Politik ist ja eine Leidenschaft. Sie hat mir sehr darüber hinweggeholfen, in mancher Beziehung vielleicht zu sehr. Wie meinen Sie das?

SCHÄUBLE: Einige Physiotherapeuten sagten, ich hätte mich ein bisschen mehr um meine Rehabilitation kümmern sollen. Aber dafür, dass ich mit meiner Lähmung seit 18 Jahren im Rollstuhl sitze, habe ich mich doch ganz gut gehalten. Haben Sie manchmal noch die Bilder von damals vor Augen? LAFONTAINE: Nein.

SCHÄUBLE: Ich erinnere mich gut daran, Herr Lafontaine, wie Sie mir erzählten, dass Sie noch lange traumatische Erinnerungen an die Minuten nach dem Messerstich hatten. Sie waren ja bei Bewusstsein und bekamen mit, wie enorm viel Blut Sie verloren. LAFONTAINE: Ja, genauso war es. Ich habe das bei vollem Bewusstsein erlebt. Mir war klar: Kommt nicht bald Hilfe, dann ist das dein Ende.

Sie hatten keine Todesangst, Herr Schäuble? SCHÄUBLE: Nein. Ich war ja von einer Sekunde auf die andere weg. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich dachte, das muss ein Schuss sein. Ich meinte, das Mündungsfeuer gespürt zu haben. Es war ja ganz nahe, nur 10 oder 20 Zentimeter von mir entfernt. Aber dann war alles weg. Ich bin erst fünf Tage später wieder aus dem Koma aufgewacht. Und dann begann ein neues Leben.

Haben ‚Sie heute noch Ängste, die Sie auf die Erlebnisse zurückführen?

LAFONTAINE: In Versammlungen ist diese Angst unbewusst immer da. Die Erinnerung ist stets präsent. Eine Zeit lang bin ich in eine Menschenmenge immer mit dem Gedanken gegangen, es könnte wieder passieren. Innerlich war ich darauf eingestellt, dass ich bereit sein muss. Hätte ich nur so gemacht (Lafontaine hebt den Arm), dann hätte mich das Messer nicht getroffen. SCHÄUBLE: Ich habe keine Angst. Ich habe andere Probleme. Mit dem Rollstuhl bin ich nicht so flexibel. Wenn ich aus meinem Zeitplan komme, kann ich das nicht mehr aufholen. Sie, Herr Lafontaine, könnten dann einfach schneller gehen. Das schaffe ich nicht. Ich gerate nur an einem einzigen Punkt wirklich unter Stress: Wenn ich in Zeitnot bin. Aber Angst? Merkwürdigerweise keine. Vor Jahren hat sich bei einer Wahlkundgebung ein betrunkener Mann mit einem Hirschfänger oder Ähnlichem genähert . . .

… da hieß es in den Nachrichtenagenturen sofort: Wieder ein Attentat auf Schäuble. SCHÄUBLE: Ja, völlig übertrieben. Dabei habe ich von dem Vorfall zunächst gar nichts mitbekommen. Mir war aber, als ich von den Meldungen erfuhr, sofort klar, dass sich meine Familie große Sorgen macht. Eine meiner Töchter, die zu der Zeit in Amerika war, rief gleich meine Frau an: „Was ist mit Papa?“ Meine Frau wusste von nichts. Die Ängste in der Familie sind immer noch da. Ich selber bin in diesen Dingen nicht so arg sensibel.

Sprechen Sie im engsten Familienkreis noch oft über das Attentat?

SCHÄUBLE: Eine Zeit lang haben wir gar nicht drüber geredet.

LAFONTAINE: In meiner Familie ist das gar kein Thema mehr.

SCHÄUBLE: Später gab es dann aber eine Phase, in der sich unsere vier Kinder ausgesprochen haben, wie sie das Ganze erlebt hatten. 1990 war die jüngste Tochter 9 Jahre alt, die älteste 19. Die älteste Tochter war an dem Abend des Unfalls dabei. Sie blieb so lange an meiner Seite, bis ich im Krankenhaus wieder aufgewacht bin. „Ich muss da sein“, hat sie gesagt, „der Papa weiß doch nicht, was passiert ist.“ Meine Frau ist natürlich auch ins Krankenhaus gekommen. Die anderen drei Kinder waren zu Hause. Sie erzählten uns später, wie das war, als sie da in der Nacht hockten. Sie saßen alle miteinander in einem Zimmer oben in unserem Haus und klammerten sich aneinander. Die Mädchen berichteten, dass sich ihr Bruder dann alsbald schlafen gelegt hat. Er zog sich gern zurück, wenn es schwierig wurde. Später erzählte mir ein Freund, wie er eine meiner Töchter von zu Hause abgeholt hat, um sie zum Jugendtreff zu fahren. Er hat überlegt, die Radionachrichten einzuschalten. Nee, mach das nicht, hat er gedacht, nicht, dass sie im Radio melden, der Vater ist tot, und die Tochter sitzt daneben.

Gibt es ein inneres Band, das Sie miteinander verbindet? Eine besondere Nähe, die Sie angesichts der unterschiedlichen politischen Grundüberzeugungen sonst nicht hätten? SCHÄUBLE: Unser persönliches Verhältnis ist schon ein besonderes, das ist klar. Ich erinnere mich noch sehr gut an seinen damaligen Besuch bei mir im Krankenhaus. Ich lag noch im Bett. Herr Lafontaine hatte anfragen lassen, ob es mir recht sei, wenn er mich besuchen würde. Ich habe gesagt: Ja, gern, wenn er keine Wahlkampfshow daraus macht.

LAFONTAINE: Ich hatte nicht vor, eine Show daraus zu machen. Das wäre geradezu peinlich gewesen. Also passte ich höllisch auf, dass die Journalisten davon nichts mitbekamen. Sie lauerten ja überall, ich war damals SPD-Kanzlerkandidat, ständig waren Fotografen an meiner Seite. Aber es ist mir gelungen, keiner folgte mir. SCHÄUBLE: Wir verbrachten einen langen Abend miteinander. So etwas verbindet schon. Ich hatte damals übrigens eine fast schon irrationale Angst, dass noch ein Attentat passiert, dass es Nachahmer gibt. Bei aller Gegnerschaft, wir sind Menschen. Wir haben zwar völlig unterschiedliche politische Vorstellungen, und keine einzige von Lafontaines unsinnigen Ansichten wird durch unsere Beziehung besser . . . LAFONTAINE: Sie waren bis jetzt so brav, Herr Schäuble.

SCHÄUBLE: …aber der politische Wettbewerb ist das eine, das persönliche Verhältnis das andere. So können wir vernünftig miteinander umgehen.

Herr Lafontaine, warum haben Sie Wolfgang Schäuble eigentlich besucht?

LAFONTAINE: Ich dachte, es wäre richtig. Viel mehr kann ich das im Nachhinein gar nicht begründen.

SCHÄUBLE: Mir hat es gutgetan. Wenn Sie mir mit dem Krankenbesuch helfen wollten, dann haben Sie den Zweck erfüllt. LAFONTAINE: Eine solche Begegnung ist etwas Besonderes, Einmaliges. Wir kannten uns ja vorher nicht so gut. Ich glaube, das war die intensivste Begegnung, die wir hatten.

Da redet man über Leben und Tod? LAFONTAINE: Ja. Natürlich über das Schicksal des jeweils anderen, darüber, wie es ihm geht. Ich war nach meiner schweren Verletzung schon wieder aus dem Gröbsten raus. Insofern war ich in einer anderen Situation als Herr Schäuble.

SCHÄUBLE: Sie kamen sogar in relativ gelöster Stimmung zu mir. Es war der 30. November 1990, Sie hatten gerade die letzte Wahlkampfveranstaltung hinter sich und wussten, dass Sie die Bundestagswahl zwei Tage später nicht gewinnen würden. LAFONTAINE: Daran gab es keinen Zweifel mehr. Lange Zeit musste ich mir natürlich einreden, dass ich eine Siegchance habe. Sonst hätte ich den Wahlkampf gar nicht durchgestanden.

Haben Sie nach den Attentaten mehr Rücksicht aufeinander genommen?

SCHÄUBLE: Man versucht ja sowieso, politische Auseinandersetzungen nicht zu persönlichen werden zu lassen. Man hält sich nur nicht immer daran. In Bezug auf Sie, Herr Lafontaine, habe ich sicher noch eine zusätzliche Hemmschwelle. LAFONTAINE: Mir geht es ähnlich. Ich kann Ihnen gegenüber nicht so auftreten wie gegenüber anderen Politikerinnen und Politikern.

SCHÄUBLE: Ach, Sie sind zu anderen noch wüster als zu mir?

LAFONTAINE: Ich weiß doch gar nicht, was wüst ist. Aber im Ernst: Ich kann doch unsere gemeinsame Geschichte, die wir hier erzählen, nicht einfach streichen. Am 12. Oktober 1990, wenige Minuten vor dem Attentat, haben Sie, Herr Schäuble, in der Wahlkampfveranstaltung in Oppenau über Lafontaine gesagt: „Wenn einer Kanzler werden will, der die Lippen beim Deutschlandlied nicht einen Millimeter auseinanderbringt, dann ist er vielleicht doch nicht der richtige Kandidat für diese Zeit.“ Diesen Vorwurf von damals erhalten Sie aufrecht? SCHÄUBLE: Na, wo ich recht habe, habe ich recht. Nachdem die Mauer gefallen war, habe ich geglaubt, dass die SPD ihren Kanzlerkandidaten auswechseln würde. Ich war der festen Überzeugung, Lafontaine ist in dieser Lage der falsche Kandidat für die SPD – für uns der günstige. Wenn Sie gewusst hätten, dass die Mauer fällt, hätten Sie die Kanzlerkandidatur wahrscheinlich gar nicht angestrebt, oder, Herr Lafontaine? LAFONTAINE: Die Sache war etwas komplizierter. Mir ging es bei meinem Widerstand gegen die schnelle Einführung der D-Mark zum Kurs von 1 : 1 um eine wirtschaftlich gelungene Vereinigung und die Vermeidung von Massenarbeitslosigkeit. Außerdem wollte ich nach dem Attentat die Kandidatur abgeben. Aber ich habe niemanden in der SPD-Spitze gefunden, der mir die Aufgabe abnahm. Ich war tief enttäuscht. Und das hat auch nachgewirkt, um das zurückhaltend auszudrücken. Sie haben weitergemacht.

LAFONTAINE: Ich musste weitermachen, ja. Nach dem Attentat war ich eigentlich nicht mehr einsatzfähig. Ich fühlte mich wie ein angeschlagener Sportler, der seinen Wettkampf trotzdem durchstehen muss. Auch meine politischen Sensoren waren nicht mehr intakt.

Haben Sie ernsthaft darüber nachgedacht, aus der Politik auszusteigen?

LAFONTAINE: Solche Überlegungen hatte ich auch vorher immer wieder. Die Politik frisst einen manchmal auf. Es gab Zeiten, wo ich mir den Vorwurf machte, zu wenig zu Hause zu sein, zu weit weg von der Familie. Ich nehme an, andere Politiker denken genauso. Nach dem Attentat habe ich mich das erst recht gefragt: Solltest du jetzt nicht ganz aussteigen? Wir haben darüber auch mal gesprochen, Herr Schäuble, als ich später bei Ihnen im Ministerium war. Hatten Sie auch Ausstiegsgedanken, Herr Schäuble?

SCHÄUBLE: Nein. Ich habe ja vorhin gesagt, dass mir die Politik geholfen hat, mit der Veränderung in meinem Leben fertig zu werden. Meine Frau hat damals zu mir gesagt: „Jetzt kannst du aufhören mit der Politik.“ Ich war ziemlich entsetzt: „Meinst du das jetzt im Ernst ?“ Irgendwann hat sie eingesehen, dass es besser für mich war weiterzumachen.

LAFONTAINE: Es warfürSie, Herr Schäuble, eine Form der Verarbeitung. Und sie ist Ihnen ja auch gelungen. Ich habe das Attentat anders verarbeitet. Bei mir ist die Frage drängender geworden, ob ich mich nicht zurückziehen soll. Ich muss da gar nichts schönfärben.

Begegnet Ihnen heute noch Mitleid? SCHÄUBLE: Selten. Dafür ist das alles zu lange her. Und das ist auch gut so. LAFONTAINE: Wolfgang Schäuble ist zu den politischen Gegnern ja oft so frech, weil er versucht, derartige Empfindungen von vornherein zu ersticken.

SCHÄUBLE: Das ist wahr. Ich muss aber ehrlich gestehen: Der politische Betrieb hat mich im Großen und Ganzen gut behandelt. Mir war schon früh nach dem Attentat klar, dass es keine Sonderbehandlung geben darf, wenn ich in die Politik zurückkehre. Das hat gut funktioniert, mit ziemlich wenigen Ausnahmen.

Herr Lafontaine, es gibt eine Art Mitgefühl, die raubeiniger ist. Gerhard Schröder hat nach der gewonnenen Niedersachsenwahl 1990 zu Ihnen gesagt; „Der Stich in den Hals hat zwei Prozent gebracht. “

LAFONTAINE: Ja, „raubeinig“ trifft es ganz gut. Der Satz war nicht zynisch gemeint. Schröder ist so gestrickt. Das Attentat hat ja tatsächlich eine Sympathiewelle für die SPD in Gang gesetzt. Ich war aber nicht gerade begeistert von der Formulierung. Analysieren Sie doch mal den Rücktritt Oskar Lafontaines aus dem Jahr 1999.

SCHÄUBLE: Er selber sagt, dass das Attentat bei der Art seiner Entscheidung eine Rolle gespielt hat. Er kann das gut beurteilen. Wenn ein anderer das sagt, wird es schwierig. Ich finde nicht, dass wir uns gegenseitig analysieren sollten. Ich könnte ihn mit meiner Analyse aber vermutlich ein bisschen ärgern, was schon Freude machen würde . . . LAFONTAINE: Sie sollten meine Beiß-

hemmungen nicht allzu sehr strapazieren. SCHÄUBLE: Vielleicht hat sich Oskar Lafontaine in seiner Einschätzung zu Gerhard Schröder doch arg getäuscht. Mit den beiden konnte es nicht gut gehen. Womöglich war Lafontaine tatsächlich anfälliger, sensibler.

Sind Sie konsequenter geworden nach dem Attentat?

LAFONTAINE: Ich bin konsequenter geworden in der Politik, vor allem wenn es um Krieg und Sozialabbau geht. Vielleicht wäre ich sonst eher bereit, hier und da noch einen Kompromiss mehr zu machen. SCHÄUBLE: Ich mache auch nicht alles mit, aber das habe ich noch nie getan. Insofern hat meine Gelassenheit auch etwas mit meiner Unabhängigkeit zu tun. Ich bin innerlich ziemlich frei.

Sie wissen genauer, was Sie wollen? SCHÄUBLE: Ja. Ich überlege nur gerade, ob das eine Folge des Attentats ist oder nicht vielmehr mit Erfahrung zu tun hat. LAFONTAINE: Das Alter kommt ganz sicher hinzu. Wir sind beide Mitte 60. Wenn man sich Ihre Politik der inneren Sicherheit anguckt, Herr Schäuble, dann könnte man meinen, Sie sind auch radikaler geworden. Sie wollen zum Beispiel das Abschießen gekaperter Flugzeuge legalisieren. Ist das die Kehrseite Ihrer Gelassenheit? SCHÄUBLE: Nein, nein, ich bin nun wirklich nicht radikal. Ich bin auch nicht für das Abschießen von Flugzeugen. Das ist ziemlicher Unsinn. Ich bin der Überzeugung, dass wir nur im Rahmen von Recht und Gesetz handeln sollten. Deswegen haben wir die Verantwortung, über die gesetzlichen Grundlagen nachzudenken. Man muss da schon ein bisschen klug sein. Dass ich nicht immer klug bin, sehe ich ein. Aber radikal ? Das ist albern. Mein älterer Bruder sagt, ich besitze schon immer eine gewisse Neigung zum Rechthaben.

LAFONTAINE: Das unterscheidet uns nun wirklich fundamental.

SCHÄUBLE: Auf so einen Satz von Ihnen habe ich gewartet.

LAFONTAINE: Das hängt wahrscheinlich mit Ihrem Sternzeichen zusammen. Es steht doch auf den Zuckerwürfeln, dass Jungfrauen rechthaberisch sind. Herr Schäuble, der Journalist Heribert Prantl hat Ihre körperliche Schwäche in Zusammenhang mit Ihrer Einstellung zur inneren Sicherheit gebracht: Sie könnten die Schwäche des Staates nicht aushalten. SCHÄUBLE: Das ist genau der Verstoß, der nicht geht. Dann kannst du als Behinderter nicht mehr an der politischen Debatte teilnehmen, wenn dir unterstellt wird, du hast jetzt eine Meinung, die durch deine Behinderung begründet ist. So diskriminiert man Minderheiten.

LAFONTAINE: Den Kommentar fand ich auch daneben.

Akzeptieren Sie beide für sich, dass Sie bis heute traumatisiert sind?

LAFONTAINE: Auf jeden Fall. Ich habe dieses Trauma, dass ich plötzlich völlig aus der Bahn geworfen wurde.

SCHÄUBLE: Ich bin nicht traumatisiert. Ich bin gelähmt.

Der Psychoanalytiker Wolf gang Schmidbauer hat Sie beide als „Traumatisierte“ bezeichnet. SCHÄUBLE: Ich kenne den Herrn nicht. Schmidbauer hat versucht zu analysieren, in welcher Weise die Attentate mit Ihrer Politik zusammenhängen. Er schreibt: „Jeder der beiden ist auf seine spezifische Weise radikal geworden und stellt die .Systemfrage‘. Lafontaine will dem Kapitalismus an den Kragen, Schäuble die Grundrechte einschränken lassen. Beide verfolgen ihre Ziele, ohne sich von Kritik beirren zu lassen, tief überzeugt, über eine Wahrheit zu verfügen, die keinen Widerspruch duldet.“

SCHÄUBLE: Meine Achtung vor dem Mann wächst durch diese Sätze nicht. Im Gegenteil. Das ist respektlos und absurd ! Ich stelle doch die Grundrechte nicht infrage, weil einer auf mich geschossen hat. Wie kommt der denn dazu, so einen Unsinn zu schreiben?

LAFONTAINE: Es stimmt, ich bin in verschiedener Hinsicht konsequenter oder meinetwegen auch radikaler geworden. Das ist aber mehr das Ergebnis meines langen politischen Lebens – also des Aufstiegs und Falls, des Erfolgs und Scheiterns. Ich bin in meinem Bemühen, den Sozialabbau zu verhindern, die Lebenssituation von Menschen gerechter zu machen, nicht weit genug gekommen. Schon deshalb neige ich da zu einer Verhärtung oder gar Radikalität. Im Übrigen wird man im Alter freier, weil man keine Karrierepläne mehr hat. Ein Attentat überstanden zu haben, verleiht einem das womöglich ein Gefühl der Unangreifbarkeit?

LAFONTAINE: Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe erfahren, wie verletzlich ich in Wahrheit bin, und war danach innerlich sehr viel unsicherer als zuvor.

SCHÄUBLE: „Unangreifbar“ ist ganzfalsch. Ich habe eine andere, mir bis dahin völlig unbekannte Erfahrung gemacht: Von einer Sekunde auf die andere kann alles anders sein.

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