Die Regierungspartei



Gastbeitrag in der Welt am Sonntag vom 21.06.2020.

Vor 75 Jahren wurde die CDU gegründet. Ihr Anspruch war immer, Politik für alle Milieus zu machen. Er gilt bis heute, meint Wolfgang Schäuble

Ein freies Volk soll wiedererstehen, dessen Grundgesetz die Achtung menschlicher Würde ist.“ So steht es in den „Kölner Leitsätzen“, formuliert von christlichen Demokraten im Juni 1945. In den vergangenen 75 Jahren hat die CDU zum rechtsstaatlichen, freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesen wesentlich beigetragen, auch zur inneren Stabilität, indem sie die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers überwand.

Volkspartei zu sein, ist weniger eine Frage von Mitglieder- oder Prozentzahlen. Maßgeblich ist das Selbstverständnis, Politik fair alle Bevölkerungsgruppen zu machen. Wenn die CDU diesem Anspruch in der Vergangenheit gerecht wurde, dann auch deshalb, weil sie als konservative Kraft die Menschen davon überzeugen konnte, dass sich Dinge verändern müssen, um das Gute zu bewahren. Die christdemokratische Haltung, den Wandel anzunehmen, um ihn verantwortlich zu gestalten, bewährte sich bei allen politischen Weichenstellungen, die untrennbar mit der CDU verbunden sind: Westbindung, Wiederbewaffnung, europäische Integration oder deutsche Einheit. Sie wird auch beim aktuellen tiefgreifenden Strukturwandel gebraucht. Eine Volkspartei wirkt nur dann integrativ und stabilisierend, wenn sie Vielfalt, auch Streit untereinander, zulässt und wenn sich gleichzeitig alle innerparteilichen Strömungen um Ausgleich bemühen. Dass dies der CDU besser als anderen gelingt, hat mit ihrem oft kritisierten Pragmatismus zu tun – als einer Folge des Menschenbildes, das Christdemokraten eint. Im Zentrum ihres Denkens steht nicht der Mensch, wie er sein soll, sondern wie er ist. Deshalb ist die CDU die ‚Partei der sozialen Marktwirtschaft, die nicht nur allen anderen Ordnungen überlegen ist, weil sie Wohlstand schafft, sondern nach Oswald von Nell-Breuning auch der Natur des Menschen entspricht, ihn moralisch weder unter- noch überfordert. Egoismus, Gier, Übermaß: Auch das ist menschlich, wir erleben es nicht bloß an den Finanzmärkten – dort allerdings besonders beschämend. Menschen sind befähigt zu Großem, aber sie machen auch schlimme Fehler. Daraus folgt das christdemokratische Verständnis wertgebundener Freiheit, die auf Grenzen und damit Regeln angewiesen ist. Der Mensch bleibt frei, sich so zu entfalten, wie er ist. Aber er wird auch in die Pflicht genommen. Auf die CDU kommt es an, diesen grundlegenden Werten in der globalisierten und digital beschleunigten Welt stärker Geltung zu verschaffen.

Freiheit und ihre Begrenzung: In diesem Spannungsfeld liegen die Antworten auf die immensen Herausforderungen, die durch die Corona-Pandemie nur verschärft werden. Niemand sollte deshalb glauben, wir müssten die Dinge bloß wieder so machen wie vor der Krise. Die CDU wird nur dann gebraucht, wenn sie eine Antwort darauf hat, wie die Welt in den kommenden Jahrzehnten funktionieren soll. Das setzt neben einem festen Wertefundament Lernbereitschaft voraus, den Willen zur Selbstkritik und Selbstkorrektur – gerade als Partei, die sich zur Fehlbarkeit des Menschen bekennt. Die Spätmoderne, in der wir leben, sei eine Moderne der Entgrenzung, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz. Und er moniert rückblickend zu Recht, die Politik habe, statt gegenzuhalten, zu regulieren und zu stabilisieren, selbst immer noch weiter mobilisiert. Die Pandemie zeigt dem nun die Grenzen auf. Sie erschüttert die Selbstgewissheit, mit der wir in den vergangenen Jahrzehnten vieles übertrieben haben – auf Kosten des Klimas, der Artenvielfalt, auch des sozialen Zusammenhalts. Mit der Globalisierung verbinden sich ein Wohlstandsversprechen, aber auch soziale Spaltungen, global wie innerhalb der Gesellschaften. Verunsicherung wuchs bereits vor der Pandemie. Unbegrenzte Freizügigkeit weckt auch Unbehagen. Die Freiheiten in der offenen Gesellschaft können überfordern. Daraus erklärt sich der ambivalente Befund, dass Menschen, die sich von der leidvollen Corona-Krise nicht existenziell bedroht sahen, die Entschleunigung auch als persönlichen Gewinn erleben konnten. Dass sie die Zeit, die sie mehr für sich oder in der Familie hatten, nicht weniger glücklich machte als ein Leben des Überflusses. In der Isolation gewann menschliche Nähe neuen Wert. Es gibt doch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Die CDU sollte deshalb ihren gestalterischen Ehrgeiz immer auch darauf verwenden, die richtige Balance zu finden zwischen unaufhaltsamer Veränderung und notwendigem Halt. Ihre Politik muss den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden: Sicherheit, Erhalt sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit. Kurz: Der Mensch muss Mensch bleiben können. Die christdemokratische Traditionslinie führt hier bis zu den „Kölner Leitsätzen“.

Biblisch beginnt die irdische Existenz mit der Vertreibung aus dem Paradies, und ich bin überzeugt: Im Schlaraffenland würden uns die gebratenen Tauben ganz schnell aus dem Hals heraushängen. Begrenzung ist eine Bedingung menschlicher Existenz. Scheinbarer Überfluss führt zur Vernachlässigung. Deshalb sollte die CDU – im Interesse nachfolgender Generationen – weiterhin ein Gegengewicht zu einer allzu lockeren Geldpolitik bilden und auch deutlich machen, dass es Klimaschutz und ökologische Nachhaltigkeit nicht zum Nulltarif gibt. Dass wir auch bei sozialen Leistungen Fehlanreize vermeiden. Selbstzufriedenheit, neudeutsch: Complacency, ist eine Folge, wenn uns gesellschaftlich die Balance zwischen Fördern und Fordern verloren geht. Wenn Menschen nichts mehr abgefordert wird, erscheinen auch Probleme immer größer – weil das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten verloren geht.

Auf die CDU als Europapartei kommt es jetzt an, die gegenwärtige Disruption nicht nur national, sondern europäisch zu nutzen. Um uns nachhaltig aus der Saturiertheit zu befreien, in die wir durch den in Jahrzehnten gewachsenen Wohlstand teilweise geraten sind. Nur so sichern wir in einer sich technologisch, ökonomisch und machtpolitisch weiter verändernden Welt den christdemokratischen Anspruch, „Wohlstand für alle“ zu schaffen – ohne dass wir allerdings dabei die Fehler und Übertreibungen der Vergangenheit wiederholen. Dazu gehört, die Chance zur Neujustierung in Europa nicht zu verpassen, sondern als CDU jetzt den Weg zu einer tieferen politischen Union zu weisen – allerdings behutsam genug, um die Identifikation der Bürger mit gewohnten Gemeinschaften nicht zu überfordern.

Die Krise hat das Vertrauen in die CDU gestärkt. Um nachhaltig größere Bindekraft zu entfalten, benötigt es mehr. Die Union muss mit klaren politischen Prioritäten, mit der Konzentration auf die großen Fragen wie Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Migration, Digitalisierung, ökonomische Stabilität den Menschen Orientierung geben. Diesem Anspruch wird die CDU nur dann gerecht, wenn sie unbequemen Debatten nicht ausweicht und unpopuläre Entscheidungen nicht scheut. Wenn sie deutlich macht: Freiheit und Wohlstand sind nicht voraussetzungslos. Die regelbasierte internationale Ordnung steht unter Druck, der Multilateralismus ist in der Krise. Umso wichtiger ist im globalen Wettbewerb der Systeme die Einbettung Deutschlands in die Nato und die EU. Bei allen Differenzen teilen wir mit den USA grundlegende Ideale und Prinzipien, anders als mit Russland oder China, und auf absehbare Zeit kommen wir Europäer ohne die Amerikaner nicht aus. Aber angesichts der machtpolitischen Verschiebungen werden wir mehr für unsere eigene Sicherheit tun müssen – und das heißt auch: für die Sicherheit der Welt um uns herum. Wir Deutschen profitierten über Jahrzehnte vom Schutz, den andere garantierten. In einem nach innen wie nach außen handlungsfähigeren Europa haben wir unsere geübte verteidigungspolitische Zurückhaltung mit den berechtigten Erwartungen unserer Partner und Verbündeten auszubalancieren. Wer, wenn nicht die CDU, sollte diese außenpolitischen Zusammenhänge erklären, um die Deutschen davon zu überzeugen, für Frieden, Demokratie und universelle Menschenrechte, für eine stabile globale Ordnung mit sicheren Infrastrukturen und freiem Austausch die materiellen, aber auch moralischen Kosten zu übernehmen?

Eine Volkspartei muss politisch führen, auch gegen Widerstände. Es gibt dazu eine schöne Anekdote über den ersten CDU-Bundesvorsitzenden: Als Adenauers Regierungssprecher ihn vom Vorhaben der Wiederbewaffnung abbringen wollte mit dem Hinweis, 75 Prozent der Bevölkerung seien dagegen, soll der Kanzler trocken entgegnet haben: „Dann kommt ’ne Menge Arbeit auf Sie zu.“ Für eine Partei, die damals wie heute den Anspruch erhebt, die Regierungspartei in diesem Land zu sein, gilt das genauso. Heute stellen wir wieder Weichen für die Zukunft. Dabei braucht es eine kraftvolle christdemokratische Stimme.

Der Autor ist Präsident des Deutschen Bundestages. Mit 19 trat er 1961 in die Junge Union ein, vier Jahre später in die CDU.