Die Balance halten. Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß – was uns Max Weber noch immer zu sagen hat.



Aufsatz, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17.01.2019.

Von Wolfgang Schäuble

Der Krieg wäre vielleicht noch zu gewinnen, wenn man Leute wie Max Weber an die Wand stellt.“ Das sagte Anfang September 1918 ein hochrangiger Offizier des deutschen Admiralsstabes. Ein Urteil, das dazu geeignet ist, noch heute jeden Beitrag über Max Weber zu sprengen. Es zeigt aber die herausragende Stellung Webers schon zu Lebzeiten – eine Bedeutung, die aus Sicht seiner Zeitgenossen offenkundig noch weit über seinen bis heute andauernden Einfluss auf die Wissenschaft hinausging.

Die Militärs hatten sich nicht zufällig gerade ihn zum Feindbild erkoren, Deutschlands führenden Sozialökonomen. Einen Mann des Ausgleichs. Dabei war Weber kein Pazifist – erst recht nicht zu Beginn des Krieges. Ihn hatte er wie so viele patriotische Intellektuelle begrüßt, sogar gefordert. Weber erkannte jedoch früher als andere, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Sinnlos, den vergeblichen Kampf weiterzuführen. Unverantwortlich und mit ethischen Prinzipien nicht zu vereinbaren.

Weber trat für einen Verständigungsfrieden ein und galt fortan denen, die zu entscheiden hatten, als Sündenbock. Weil er lieber „unbequeme Wahrheiten als bequeme Unwahrheiten“ aussprach, wie Weber von sich selbst sagte. Weil er mit seiner Mahnung zur Verantwortung recht behielt – auf ganzer Linie. Weil das jene nicht ertragen konnten, die auf ihre Gesinnung vertraut hatten – bis hin zur Selbsttäuschung.

Verantwortung und Gesinnung: das Handeln der Militärs und seine Folgen machen die zeitlose Dichotomie menschlicher Denk- und Verhaltensweisen überdeutlich. Vor dem Hintergrund der Weltkriegserfahrung hielt Weber vor genau 100 Jahren vor Münchner Studenten einen Vortrag, indem er Grundsätzliches über Politik als Beruf formulierte – oder Berufung. Indem er aber vor allem das Spannungsfeld ausleuchtete, in dem sich Politik, menschliches Handeln überhaupt, immer vollzieht:

Verantwortungsethiker schauen auf die Folgen ihres Handelns. Sie sind kompromissbereit und scheuen sich, alles auf eine Karte zu setzen. Gesinnungsethiker hingegen agieren, als gäbe es kein Danach. Unfähig, den begrenzten, aber realen Handlungsspielraum zu nutzen. Ohne selbst Verantwortung für die voraussehbaren Folgen ihrer Handlungen zu übernehmen. Der Gesinnungsethiker, so Weber, ertrage die „ethische Irrationalität der Welt“ nicht. Das disqualifiziere ihn für Entscheidungen mit dem nötigen Augenmaß.

Webers Überlegungen über die ethischen Grundlagen unseres Handelns prägen noch immer unser Verständnis von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Sein Denken bleibt wichtige Referenzgröße in einer Welt im rasanten Wandel, der große Herausforderungen mit sich führt. Wir sehen uns gegenwärtig unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung mit einer immensen Beschleunigung der Veränderungen konfrontiert. Sie haben weitreichende Konsequenzen für den einzelnen Menschen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir lernen gerade erst, was Globalisierung wirklich heißt – neben fast unbegrenzten neuen Möglichkeiten auch vielfache Ungewissheiten.

Mich braucht niemand davon zu überzeugen, dass die Globalisierung trotz aller Risiken ein weltweites Wohlstandsprojekt ist. Der Prozess der Globalisierung schafft ungekannte Freiheiten und bietet Milliarden Menschen neue Chancen, sich mit der Dynamik freier Märkte erstmals aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien.

Das ist jedoch nur die eine Seite – nur ein Teil der Realität. Die andere ist weniger rational. Aber genauso real: das Gefühl, dass etwas aus den Fugen geraten ist. Dass die Welt uns spürbar immer näher rückt und sich dadurch unsere vertraute Umwelt grundlegend verändert. Menschen gewinnen vielerorts den Eindruck, von den Veränderungen der Globalisierung und Digitalisierung überrollt zu werden, einer immer komplexeren Welt ausgeliefert zu sein. Sie leiden unter dem wirtschaftlichen Strukturwandel und dem verschärften internationalen Wettbewerb. Die immense Beschleunigung des Wandels auf allen Ebenen wird von vielen als disruptiv, als Entfremdung wahrgenommen, als Auflösung des Bekannten, Hergebrachten, Vertrauten. Weber hätte von der „Sprengung der Traditionsverbundenheit“ gesprochen. Soziale Kohärenz gerät dadurch in Gefahr.

Wir spüren doch alle: Inmitten unseres Wohlstand wächst Verunsicherung. Obwohl es unserem Land gegenwärtig objektiv so gutgeht wie nie zuvor und die meisten Menschen dies auch so sehen, beherrscht viele die Angst, unseren Kindern und Enkeln werde es schlechter gehen. Dominiert Zukunftspessimismus. Unbegrenzte Freizügigkeit weckt auch Unbehagen. Die Freiheiten, die wir in unseren offenen Gesellschaften haben, durch die Globalisierung und die neuen Kommunikationsmittel, können überfordern.

Glück und Zufriedenheit der Menschen entscheiden sich eben nicht alleine an der Frage, wie viele und welche Autos in der Garage stehen. Nicht daran, wie viele Reisen man sich leisten kann, in die exotischsten Länder der Welt. Nicht einmal daran, wie viele „Likes“ man in sozialen Medien sammelt. Glück und Zufriedenheit der Menschen entscheiden sich daran, ob man sein Leben so führen kann, dass man mit sich im Einklang ist. Dass man Bindungen erfährt, sich verwurzelt fühlt, geborgen ist, dass man Halt hat, ein Zuhause. Es gibt doch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, den Drang, sich mit etwas zu identifizieren.

Das ist keine Frage des Entwicklungsstandes eines Landes, das ist eine anthropologische Konstante. So ist der Mensch. Die Gefühle, entwurzelt zu werden, sind deshalb ein Problem, das sich hier genauso stellt wie in Ländern, denen es materiell objektiv schlechter geht als uns.

Wohlstand und auch Armut sind sehr relative Begriffe, so wie das Glück. Der Hinweis auf unseren materiellen Wohlstand, erst recht im internationalen Vergleich, löst deshalb die Probleme nicht. Und den materiellen Wohlstand weiter zu mehren macht allein auch noch nichts besser. Das ist eine Fehleinschätzung, der die Politik allzu gerne erliegt.

Webers Verantwortungsethik verlangt von uns Wirklichkeitssinn. Das heißt: den gestalterischen Willen, eine Balance zu finden zwischen unaufhaltsamer Veränderung und notwendigem Halt. Diese Balance braucht es. Verantwortliche Politik muss den Menschen das Gefühl geben, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden: Sicherheit, der Erhalt sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit. Kurz: Auch im Wandel muss der Mensch Mensch bleiben können.

So muss der Wandel gestaltet werden. Damit die Menschen Schritt halten, mit den Veränderungen fertigwerden können. Das gilt national wie global. Wir müssen den technologischen Fortschritt, wie wir ihn erleben, und die fortschreitende Entwicklung in anderen Regionen der Welt mit dem Befinden der Menschen in Einklang bringen. Um sie nicht zu überfordern. Um sie ernst zu nehmen: mit ihren Traditionen, ihrer Kultur. Umso mehr, als die Gleichzeitigkeit weltweit sehr ungleicher Zustände die Situation noch verschärft.

Die globale Verfügbarkeit von Informationen in Echtzeit verstärkt die zumindest subjektive Wahrnehmung von sozialen Unterschieden und Ungleichheiten – innerhalb unserer Gesellschaft, aber auch zwischen den westlichen Gesellschaften und anderen Regionen der Welt. Was an einem Punkt der Erde passiert, hat längst vielfältige Auswirkungen auch auf andere Länder, andere Wirtschaftsräume, Gesellschaften und Individuen. Mit den weltweiten Migrationsbewegungen und dem internationalen Terrorismus rücken uns Kriege und Konflikte, aber auch Ungleichheit und Perspektivlosigkeit in entfernten Regionen plötzlich sehr nahe.

Die Krise auf den internationalen Finanzmärkten vor zehn Jahren hat gezeigt, zu welchen Erschütterungen es in der global vernetzten Wirtschaft kommen kann. Wir denken dabei schnell an die Verantwortung der Banken. Aber sie wurde ausgelöst durch den Menschen. Durch ein maßloses Streben nach immer mehr. Immer mehr Geld, immer mehr Wohlstand. Auch das Verlangen ist menschlich.

Es ist uns gelungen, den totalen Kollaps abzuwenden. Trotzdem hat die Krise vielfach zu großen materiellen Einbußen geführt. Aber die wirklich weitreichenden Folgen dieser Krise, die nachhaltige Wirkung, die sie auf die Menschen ausübt, gehen über das Materielle weit hinaus. Denn Vertrauen und das Gefühl von Sicherheit sind betroffen. Grundlagen für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Den dürfen wir aber nicht ernsthaft gefährden. Denn ohne inneren Zusammenhalt kann auch eine moderne Gesellschaft in Freiheit nicht dauerhaft bestehen. Deshalb werden wir in der Zukunft bessere Antworten finden müssen, wenn uns die Märkte wieder einmal vor vergleichbare Probleme stellen.

Verantwortliche Politik muss die anthropologische Konstante menschlicher Unvollkommenheit berücksichtigen: Der Mensch braucht Freiheit, aber auch begrenzende Regeln, einen Rahmen für sein Handeln. Politik muss diese Regeln setzen, individuelles Handeln in einen Ordnungsrahmen betten, der Brüche und Verwerfungen verhindert. Der das gesellschaftliche Gleichgewicht wahrt.

Das ist keine neue Erkenntnis. Schon der antike Gesetzgeber Solon sah mit Sorge auf Veränderungen, wenn sie maßlos erfolgten. Er forderte, Reformen stets vom Ende her zu denken. Die Folgen im Blick zu behalten. Das Land „nicht stärker verändern wollen, als das Volk ertragen kann“. Daran knüpfte Webers Verantwortungsethik an. Und auch die für unsere Wirtschaftsordnung so zentrale Freiburger Schule ist vom Gedanken maßvoller Veränderungen, Neujustierungen, Adaptionen durchdrungen. Alfred Müller-Armack, Walter Eucken und andere Vertreter des Ordoliberalismus traten für einen regelbasierten Ausgleich gesellschaftlicher Interessen ein. Maß und Mitte bestimmte ihr Denken und Handeln. Sie nahmen den Balance-Gedanken einer doppelten Vermeidung von zu viel und zu wenig Veränderung vorweg.

Soziales Handeln beim Wirtschaften ist nach Weber erst dann und nur insofern gegeben, als es das Verhalten Dritter mit in Betracht zieht. Wirtschaftliches Handeln ist kein Selbstzweck und darf kein Selbstzweck werden. Der Markt, wenn man ihn ganz sich selbst überlässt, zerstört sich selbst – wie die Freiheit, die ohne Grenzen bleibt. Die Grundfrage bleibt deshalb, wie wir es schaffen, dass in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Freiheiten verantwortlich genutzt werden.

Der Ordoliberalismus, dessen Begründer mit Weber nicht nur das anthropologische Grundverständnis gemeinsam haben, gibt eine Antwort. Sie lautet: durch die Soziale Marktwirtschaft. Weil sie sich der Realität der unperfekten menschlichen Natur stellt, jenen „durchschnittlichen Defekten der Menschen“, von denen Weber gesprochen hatte. Es ist ein anreizbezogenes Modell, das der menschlichen Disposition zum moralischen Handeln am besten entspricht. Oswald von Nell-Breuning hat das in dem bemerkenswerten Satz ausgedrückt, dass die Soziale Marktwirtschaft auch deshalb dem Menschen gemäß sei, weil sie ihn moralisch nicht überfordere. Auch Moral sei schließlich ein knappes Gut. Sie lässt den menschlichen Egoismus zur Geltung kommen, ohne ihm zu erlauben, nur egoistisch zu sein. Es braucht auch Solidarität.

Die Ordoliberalen standen in guter Weberscher Tradition, wenn sie gegen die Illusion argumentierten, mit Protektionismus oder Gleichheitsforderungen mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Anstrengungsloses Einkommen kann keinen nachhaltigen Wohlstand generieren. Es lähmt Produktivkräfte, statt sie zu stimulieren. Solidarität muss Eigenverantwortung ergänzen, ersetzen kann sie sie nicht. Menschliche Gesellschaften bringen ohne funktionierende Anreizsysteme weniger zustande. Aber Freiheit, Eigenverantwortung allein ist auch nicht alles – ohne Solidarität zerstört sie ihre eigenen Grundlagen.

Die Soziale Marktwirtschaft trifft Vorkehrungen für einen verantwortlichen Umgang mit Freiheit innerhalb des Marktgeschehens, und sie braucht korrigierende Elemente außerhalb des Marktgeschehens. Um der Gefahr von Übertreibungen entgegenzuwirken – also Grenzen, Regeln und Gegengewichte. Alfred Müller-Armack hat es so formuliert: Es komme darauf an, „die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen“. Die Balance zu halten. Maß und Mitte.

Der Staat ist heute nicht von der Verantwortung zu entbinden, als Hüter und Gestalter unserer Ordnung über Ordnungen für die ganze Welt nachzudenken. Eine Balance auf nationaler Ebene erweist sich nur dann noch als stabil, wenn sie in ein globales Gleichgewicht eingebettet ist. Denn wir sind in einem solchen Maß weltweit verflochten, dass vieles, was heute reguliert werden soll, nur global wirkungsvoll zu machen ist.

Die Verhinderung der Klimakatastrophe, der Kampf gegen digitale Oligopole, eine zunehmend usurpatorische Vormacht des Finanzmarkts: diese und andere Herausforderungen brauchen globale Vereinbarungen, grenzübergreifende Spielregeln, um ein nachhaltiges Systemversagen zu vermeiden. Wir brauchen Wachstum auf internationaler Ebene, das noch mehr Menschen zugutekommt. In der globalisierten Welt werden Wohlstand und Stabilität für die glücklichen Besitzenden, zu denen wir uns in hohem Maße zählen dürfen, nur zu bewahren sein, wenn die Spaltungen und die daraus resultierenden Konflikte nicht immer größer werden, sondern beherrschbar bleiben.

Als Weber vor 100 Jahren seine Gedanken formulierte, war gerade erst eine Welt untergegangen, deren globale Verflechtung bereits weit fortgeschritten gewesen war. Zerstört im Weltkrieg eines entfesselten Nationalismus. Weber zog daraus die Lehre, dass die europäischen Nachbarn künftig zusammenarbeiten sollten. Er plädierte dafür auch aus einem geostrategischen Grund. Weber sah voraus, dass die Zeit europäischer Weltbeherrschung definitiv beendet war. Ihm galten 1918/19 die Vereinigten Staaten als künftig dominierende Großmacht. Er hielt deshalb eine Bündelung der europäischen Interessen für die einzige Chance, sich international als eigenständiger Akteur behaupten zu können.

Die USA sind Weltmacht geworden. Und inzwischen drängen längst andere in der Welt nach vorne. Treten in Konkurrenz zu Europa mit seinen Werten. Wollen international den Ton angeben. Weil wir das begriffen haben, sehen wir unsere Zukunft in Europa. Die Globalisierung hat die europäischen Staaten enger zusammengeführt, als man sich das vor 30 Jahren hätte denken können. Wir haben verstanden: Nur wenn Europa wirtschaftlich erfolgreich und damit auch politisch stark ist, als Kontinent von Innovation, Wissenschaft und Technik, werden wir unseren Beitrag leisten können zur Beantwortung der globalen Nachhaltigkeitsfragen. Wir werden die globalen Ordnungsfragen im europäischen Sinne nur wirkungsvoll mit beantworten, diese Welt in Bewegung mit unseren Werten und Überzeugungen mit gestalten können, wenn wir es gemeinsam tun, wenn wir unsere Fähigkeiten bündeln. Die EU ist deshalb die beste Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung.

Für die Politik ist die Versuchung allerdings groß, unangenehme politische Entscheidungen nicht zu treffen, solange es andere Alternativen gibt. Wir Europäer haben uns für die relative Stabilisierung der benachbarten Regionen im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika lange auf moralisch zweifelhafte autoritäre Regime gestützt. Konnten mit der Ordnungsmacht Vereinigte Staaten rechnen. Jetzt müssen wir uns als fähig erweisen, das, was wir an Stabilität brauchen, aus unserem Wohlstand heraus den Regionen, die uns umgeben, zu vermitteln. Gemeinsam. Afrika braucht Investitionen – nicht nur aus China. Wir müssen uns mehr engagieren, politisch und wirtschaftlich. Wirksam helfen, unserer Nachbarschaft nachhaltig mehr Perspektiven ermöglichen: weil in den Krisenregionen dringend Kräfte für Aufbau und Aufschwung gebraucht werden; und weil die europäischen Länder auf Dauer mit Flüchtlingsbewegungen, wie wir sie 2015 erlebt haben, überfordert wären. Das ist keine Frage nur der Gesinnung, sondern Ausdruck unserer Verantwortung.

Unsere Welt ist nicht ideal. Und es gibt auch keine perfekten Lösungen. Sie strebt allenfalls an, wer seine Gesinnung absolut setzt und sich um ihre Umsetzung nicht schert. Denn das Beste ist meist der Feind des Guten. Der Hang zum Perfektionismus birgt Gefahren. Indem er zu Schwerfälligkeiten führt, allzu leicht Resignation aufkommen lässt. Zumindest in einem scheinen wir gerade in Deutschland perfekt: darin zu erklären, warum etwas nicht funktioniert. Dabei sind Verbesserungen möglich, peu à peu. Auf sie müssen wir uns konzentrieren – in Deutschland und als Europäer. Mit eigenen Akzenten. In der Digitalisierung etwa können wir europäische Wege jenseits des amerikanischen und chinesischen gehen. Dabei beginnt jede Reform mit dem ersten Schritt. Die Datenschutzgrundverordnung ist ein solcher. Und der ist auch dann sinnvoll, wenn sie für einen zunächst geographisch begrenzten Raum gilt. Besser einige gehen voran, als dass in falscher Perfektionserwartung Stillstand herrscht.

Das trifft auch auf den Kampf gegen Steuerhinterziehung zu – er verspricht nur über schrittweise Reformen auf G-20-Ebene Erfolg. Oder auf die Finanztransaktionssteuer: James Tobin hat sie einst vorgeschlagen, um die Spekulationswut am Kapitalmarkt einzudämmen. Skeptiker erklären, dieses Ziel sei nur erreichbar, wenn alle Länder mitmachten. Ansonsten bestünde die Gefahr einer Regulierungsarbitrage, die das Ziel der Steuer unterlaufe. Es sei jedoch unwahrscheinlich, dass alle mitmachen. Deshalb solle man besser gleich die Finger davonlassen. Aber: Wer eine „First-Best“-Variante nicht hinbekommt, braucht nicht auf jegliches Handeln zu verzichten. Er konzentriert sich auf das, was leichter erreichbar ist. Auch dadurch gibt es Fortschritte, wenn auch begrenzte. Für die Finanztransaktionssteuer heißt das: sie auf EU-Ebene einzuführen. Dann sind zwar nicht alle Länder beteiligt, aber doch eine ganze Reihe wirtschaftlich bedeutender Staaten. Das ist keineswegs nichts. Es ist eine Verbesserung zum Status quo und kann der erste Schritt zu einer irgendwann weltweit wirksamen Tobin-Steuer sein.

Auch der vieldiskutierte Migrationspakt der UN wird seine Sinnhaftigkeit nicht erst dann entfalten, wenn er von jedem Mitglied im Weltverbund der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde. Deutschland hat zu seiner Entstehung erheblich beigetragen. Und unser Land wird vom Pakt profitieren. Weil er im Umgang mit Migranten Mindeststandards schafft, die wir schon haben. Und andere dazu anhält, sich ihnen anzunähern. Dies mag nicht bei allen gleich populär sein. Aber zu verantwortungsvoller Politik gehört der Wille zur Führung. Führung durch Richtungsvorgaben. Dem Volk aufs Maul schauen, wie schon Luther sagte, ihm aber nicht nach dem Mund reden: darauf kommt es an. In einer globalisierten Welt mehr denn je.

Zur Verantwortung gehört im Übrigen auch, gerade beim schrittweisen Vorgehen nicht ganz auf die Regelgebundenheit von Systemen zu verzichten. Nicht immer alles nur situativ zu machen. Auch wenn wir nur schrittweise vorangehen können, bleibt es von fundamentaler Bedeutung, dass die Entscheidungen in sich systemisch stimmig sind.

Das Beispiel Föderalismus zeigt das Problem: Weil wir nicht die Kraft zum großen Schritt haben, also bei der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern die Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung zwischen den föderalen Ebenen grundsätzlich überprüfen, gehen wir fortwährend kleine Schritte. Wir debattieren im Parlament derzeit wieder einmal über Investitionen im Bereich Bildung. Die sind dringend notwendig. Aber das hat eine Nebenwirkung: Auch die Rechte des Bundes werden gestärkt. Das ist einerseits richtig. Weil damit das ordnungspolitische Prinzip umgesetzt wird: Wer das Geld zur Verfügung stellt, soll auch über seine Verwendung entscheiden. Aber es geht zu Lasten der Verantwortung der Länder, geht auf Kosten einer klaren föderalen Kompetenzabgrenzung und der Eigenverantwortlichkeit der politischen Ebenen. Ordnungspolitisch geht es aber immer um Rahmenbedingungen, die vernünftiges und verantwortliches Handeln wahrscheinlicher machen. Wie setzen wir die Anreize richtig? Angelsächsisch ausgedrückt, ist das die Vermeidung von „Moral Hazard“. Deshalb: Kleine Schritte, ja! Aber in die richtige Richtung. Regelgebunden: das fordert verantwortungsvolle Ordnungspolitik von uns.

Weber stand, als er seine Gedanken niederschrieb, unter dem Eindruck der Russischen Revolution – und wie insbesondere Intellektuelle darauf reagierten. Er geißelte die „ins Leere laufende ,Romantik des intellektuell Interessanten‘ – ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl“. Verantwortlich, so Weber, fühle sich der Gesinnungsethiker nur dafür, „daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z. B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt“. Sie stets neu anzufachen: darin alleine erschöpfe sich sein Zweck. Gesinnungsethik strebe zum Absoluten. Laufe sogar Gefahr, in rigorose Intoleranz gegen Andersdenkende umzuschlagen. Der uns „eben ,Liebe gegen Gewalt‘ gepredigt“ habe, würde im nächsten Augenblick zur Gewalt aufrufen, „zur letzten Gewalt, die dann den Zustand der Vernichtung aller Gewaltsamkeit bringen würde“. Wir wissen heute, in welche totalitären Abgründe es führt, wenn Gesinnung machbar werden soll. Um jeden Preis. Auch in dieser Hinsicht hat Max Weber nichts an Aktualität eingebüßt.

Im demokratischen Streit ist die Auseinandersetzung zwischen Menschen mit verschiedenen Wertvorstellungen normal. Gesinnung ist legitim. Kritik am Bestehenden zulässig. Mehr noch: Sie ist notwendig. Als Voraussetzung für Verbesserungen im Sinne des Trial and Error. Jede Seite muss sich gefallen lassen, dass ihre Argumente immer auch am moralischen Anspruch gemessen werden. Wer sich aber vom Standpunkt des vermeintlich moralisch Erhabenen gesinnungsethisch den Luxus einer aufs eigene Ideal gerichteten Absolutheit leistet, verzichtet in der Wirklichkeit einer komplexen Welt auf seine politische Gestaltungsfähigkeit. Auf die kommt es aber an. Denn für die Bedingungen, unter denen wir in einer sich immer weiter verändernden Welt zukünftig leben wollen, sind wir selbst verantwortlich.

In seiner berühmten Rede vom Januar 1919 formulierte Max Weber bekanntlich als Grundsatz aller verantwortlichen Politik das „starke langsame Bohren von harten Brettern“. Er betonte die Mühsal politischer Gestaltungsprozesse, das Zähe, das Ausdauer Erfordernde eines Einsatzes für das Gemeinwohl. Dass sich Beharrlichkeit aber lohnt, Anstrengungen nicht vergebens sind: das gehört zur optimistischen Grundnote in Webers Denken. Zu jener unbedingten „Weltbejahung und Weltanpassung“, von der er schon in seiner Schrift über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus gesprochen hatte. Die einzigen Voraussetzungen für ein gutes Ende politischen Handelns seien, dass Entscheidungsträger bereit sein müssten, die Dinge realistisch zu betrachten, Fehlentwicklungen zu antizipieren und zu korrigieren – und dass sie zu jeder Zeit über drei Eigenschaften verfügten: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“ Um die Balance zu halten, um gesellschaftliche Brüche zu vermeiden. Um den Zusammenhalt zu wahren. Den Appell Webers sollten wir deshalb auch weiterhin beherzigen.