„Ziemlich viel richtig gemacht“



Interview mit der Nordwest-Zeitung vom 02.10.2014.

Nordwest-Zeitung (NWZ): Herr Dr. Schäuble, Sie gelten als Architekt des Einigungsvertrages. Was würden Sie aus heutiger Sicht anders machen?

Wolfgang Schäuble: Die Menschen haben die Mauer zum Einsturz gebracht, weil sie es in der DDR nicht mehr länger ausgehalten haben. Die DDR-Führung hatte für die Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge zur Bedingung gemacht, dass der Zug mit den Menschen durch die DDR fahren muss. Das hatte eine fatale Wirkung auf die Stabilität des Landes. Das war eine Torheit der DDR-Regierung und ein Glück für die Menschen und die Freiheit. Übrigens sollte nicht in Vergessenheit geraten: Es war der SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, der das Aufnahmeverfahren für DDR-Übersiedler wieder abschaffen wollte. Er wollte die Menschen wieder zurückschicken. Diese Forderung hat enorm große Zustimmung in der deutschen Öffentlichkeit gefunden. Die Bundesregierung hat dagegen entschieden: Kommt überhaupt nicht in Frage. Die Menschen in der DDR haben dann gesagt, entweder die D-Mark kommt, oder wir gehen zu ihr. Wir haben uns für die Währungsunion entschieden, und das war völlig richtig.

NWZ: Und dann kam der Einigungsvertrag. Gab es auch Entscheidungen, die aus heutiger Sicht nicht richtig waren?

Schäuble: Als Bundesinnenminister hatte ich vorgeschlagen, dass wir die Bedingungen für die Deutsche Einheit in einem Vertragswerk regeln, damit die Menschen wissen, worauf sie sich einlassen und nicht nur der Deutsche Bundestag entscheidet, in dem bis zur Wahl 1990 ja nur Westdeutsche saßen. Da gab es hunderttausend hochkomplizierte Dinge zu regeln, und das in kürzester Zeit. Wir haben der Deutschen Einheit in Frieden und Freiheit einen Rahmen gegeben. Das war richtig. Deutschland ist zu seinem Glück vereint. Europa ebenso. Natürlich kann man fragen, was man anders hätte machen sollen. Ich glaube, wir haben das ziemlich richtig gemacht.

NWZ: Die von Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften lassen in einigen Regionen Ostdeutschlands bis heute auf sich warten.

Schäuble: Wer sich noch daran erinnert, wie grau die DDR vor dem Fall der Mauer war, wie die Situation in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Behinderteneinrichtungen war, wo es einem die Tränen in die Augen getrieben hat und sich der real existierende Sozialismus von seiner menschenverachtenden Seite gezeigt hat, der sieht die gewaltigen Unterschiede. Die Menschen in der DDR haben sich lieber nicht in die Augen geschaut, weil sie die Stasi und ihre Spitzel fürchteten. Natürlich ist noch nicht alles perfekt. Aber heute ist das ein anderes, ein farbiges Land.

NWZ: Wie erinnern Sie sich an den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls?

Schäuble: Wir hatten zunächst eine Besprechung im Bonner Kanzleramt mit dem damaligen Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und den Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP. Damals war ich Innenminister. Es ging um die Frage von Übersiedlern aus der damaligen DDR. In diese Sitzung kam Eduard Ackermann, der Pressechef des Kanzleramts, mit der Nachricht, die DDR werde noch an diesem Abend die Mauer öffnen. Das muss gegen 19.30 Uhr oder 20 Uhr gewesen sein. Wir haben es erst nicht glauben können. Dann haben wir verabredet, als erstes die laufende Debatte im Bundestag zu unterbrechen. Der Chef des Kanzleramtes hat dort dann eine kurze Stellungnahme abgegeben. Die Abgeordneten haben sich spontan erhoben und die Nationalhymne gesungen. Das war schon sehr bewegend.

NWZ: War im Spätsommer 1989 erkennbar, dass sich die Dinge so entwickeln würden?

Schäuble: Natürlich hat man auch Gefahren gesehen. Gerade die Älteren hatten noch die Erinnerung an 1953 und den Arbeiteraufstand in der Sowjetischen Besatzungszone, 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und schließlich an 1981 und die Verhängung des Kriegsrechts in Polen. Im August 1989 war der Eiserne Vorhang bereits zwischen Österreich und Ungarn geöffnet worden. Da gab es den Geheimbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten, der Helmut Kohl mitteilte, dass Ungarn die Grenze öffnen würde. Dann ging es darum, was aus der Botschaft in Prag wird, wo mehrere Tausend DDR-Bürger Zuflucht gesucht hatten und auf Ausreise hofften. Zum Glück gab es seit 1985 einen russischen Präsidenten Michail Gorbatschow, der immer deutlicher gemacht hat, dass er keine militärischen Mittel einsetzen werde. Er hat bewiesen, dass man ihm vertrauen konnte.

NWZ: Die Angleichung der Lebensverhältnisse lässt weiter auf sich warten. Wie lässt sich bis Ende 2020 das Ende der Rentenunterschiede zwischen Ost und West erreichen?

Schäuble: Die Unterschiede im Rentenniveau sind heute nicht mehr so gewaltig. Die Höchstrente in der DDR, wenn man eine Zusatzversorgung für systemnahe Tätigkeiten hatte, lag bei 490 DDR-Mark. Heute bestehen noch Unterschiede beim Rentenwert. Es gibt ganz unterschiedliche Erwerbsbiografien. Man muss immer genau darauf achten, was man vergleicht­. Wir werden den Weg der Angleichung weiter gehen. Schritt für Schritt.

NWZ: War der Umgang mit den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit richtig?

Schäuble: In der Tat hat es damals unterschiedliche Meinungen gegeben und auch Stimmen, die Akten zu schließen. Wir haben dann beim Vertrag zur Deutschen Einheit die Entscheidung der Volkskammer zur Grundlage genommen. Das hat sich als richtig erwiesen. Die Stasiunterlagenbehörde hat gute und wertvolle Arbeit geleistet.

NWZ: Ist es jetzt an der Zeit, die Akten zu schließen und in ein Archiv umzuwandeln?

Schäuble: Das Interesse an Akteneinsicht ist weiterhin sehr hoch. Es war und bleibt richtig und wichtig, den Opfern­ der DDR-Repression Einsicht in die über sie gesammelten­ Unterlagen zu ermöglichen. Andere Länder beneiden uns um unsere Vergangenheitsbewältigung.