Schäuble über die AfD: »Manches ist wirklich abstoßend«



Interview mit der Mittelbadischen Presse vom 01. Dezember 2016 .

Manches, was in der rechtspopulistischen AfD passiert, hält Wolfgang Schäuble für »wirklich abstoßend«. Der langjährige Offenburger Bundestagsabgeordnete der CDU und Bundesfinanzminister sagte im Interview mit der Mittelbadischen Presse jetzt in Berlin: »Wir müssen den Menschen sagen: Lauft solchen Leuten, die keine Lösungen anbieten, nicht hinterher.«

Als Sie 1972 als 30-Jähriger erstmals in den Bundestag kamen, waren Willy Brandt Kanzler und Walter Scheel Bundespräsident. Mit Annemarie Renger wurde erstmals eine Frau als Parlamentspräsidentin gewählt. Wie war das damals für Sie?
Schäuble: Ich war damals in Freiburg in der Jungen Union aktiv, als der Bundestag vorzeitig aufgelöst wurde. Die Regierungsmehrheit von Willy Brandt war immer kleiner geworden. Und weil die CDU in Baden-Württemberg bei den Landtagswahlen im April des Jahres einen sensationellen Sieg errungen hatte, startete die Union in Bonn einen Misstrauensantrag gegen Kanzler Brandt und wollte Rainer Barzel zum Kanzler wählen. Das ging aus bekannten Gründen schief. Heute wissen wir, dass die Stasi ihre Hände im Spiel hatte. Als es ein Stimmenpatt gab, kam es zur Auflösung des Bundestags, und es mussten ganz schnell Kandidaten nominiert werden.

Und da kamen Sie ins Spiel….
Schäuble: Im Offenburger Wahlkreis hatte schon 1969 Hans Furler angekündigt, dass er bei der nächsten Wahl nicht mehr kandidieren wolle. Eine Reihe von Kandidaten hatte sich schon feste Hoffnungen auf die Nachfolge gemacht. Doch die Junge Union wollte einen eigenen Kandidaten ins Rennen schicken. Und so wurde ich in Freiburg angerufen: »Die Junge Union muss Flagge zeigen. Sie müssen antreten.« Ich habe zugestimmt. Und in der Annahme, dass drei Wochen später alles rum ist und es nicht klappen wird, hat auch meine Frau zugestimmt. Denn eigentlich hatte ich versprochen, nie Abgeordneter werden zu wollen. Unglücklicherweise (lacht) bin ich es doch geworden.

Wie war denn Ihr Start im Parlament?
Schäuble: Anfangs hat mir der damalige Freiburger Kollege Hans Evers Tipps gegeben, den wir 1969 als Junge Union gegen den Amtsinhaber durchgesetzt hatten – wir waren als Junge Union ja immer für Erneuerung. Hans Evers hatte auch gesagt, ich solle in den Sportausschuss gehen. Ich wurde dann auch gleich sportpolitischer Sprecher und hatte eine wichtige Funktion (lacht). So begann meine Karriere.

Bei den wichtigen Funktionen ist es ja auch geblieben. Sie sind jetzt in der zwölften Legislatur, Sie sind der dienstälteste Abgeordnete, der jemals im Bundestag saß und streben nun das 13. Mandat an. Gilt ja eigentlich als Unglückszahl…
Schäuble: Zahlen haben für mich nicht eine so magische Bedeutung. Ich habe ein rationales Verhältnis zu Zahlen.

Wieso wollen Sie denn jetzt noch einmal antreten?
Schäuble: Ich hab’ lange überlegt. Nächstes Jahr werde ich 45 Jahre im Bundestag gewesen sein. Nun leben wir aber in einer Zeit mit großen Verunsicherungen – innenpolitisch und außenpolitisch. Da kann ich mit meinen Erfahrungen etwas einbringen. Der Finanzminister gilt ja – na, die einen sagen als stur und unbequem, die anderen sagen, er stehe für Verlässlichkeit. Außerdem gibt es weiterhin viele Dinge, die ich voranbringen will. Ich habe das auch diesmal mit dem Ortenauer CDU-Vorsitzenden Volker Schebesta abgesprochen, der die Stimmung an der Basis kennt. Jetzt haben wir am nächsten Freitag die Nominierungsveranstaltung, und ich gehe mal davon aus, dass ich eine gewisse Chance habe.

Ihre Merkmale sind ja wirklich Kärrnerfleiß und Pflichterfüllung. Ist denn Pflicht für Sie auch gleich Neigung?
Schäuble: Ja, Politik ist für mich Neigung. Sie macht mir immer noch Freude. Natürlich bin ich auch jemand, der pflichtbewusst ist. Es ist ein großes Privileg, Abgeordneter zu sein, die Menschen setzen Vertrauen in einen. Als Finanzminister ist die Verantwortung natürlich noch größer. Die Anspannung ist nicht immer leicht.

Und die Kritik natürlich.
Schäuble: Wer mit Kritik nicht umgehen kann, sollte sich einen anderen Beruf als Finanzminister suchen.

Würden Sie nach der Bundestagswahl gern weiter Finanzminister bleiben?
Schäuble: Das werden wir nach der Wahl sehen. Ich bin weiter bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Wie stehen Sie zu Schwarz-Grün, falls das nach der Wahl rechnerisch möglich sein sollte?
Schäuble: Ich bin kein Anhänger von Koalitionsspekulationen. Tatsache ist aber: Ich habe schon in den 90er-Jahren gesagt, wir müssen die Positionen der Grünen ernst nehmen. Eine wertkonservative Partei kann ja bei Fragen der Erhaltung unserer Umwelt und Natur nur sagen: Das ist auch wichtig für uns.

Und wie sehen Sie nun eine Koalition von Union und Grünen?
Schäuble: Nach der Bundestagswahl 2013 konnten wir die Koalition mit der FDP nicht fortsetzten, weil die nicht mehr in den Bundestag kam. Damals haben wir sowohl mit der SPD als auch mit den Grünen mehrere Abende lang Sondierungsgespräche geführt. Sehr intensiv war das. Unter anderem waren Herr Kretschmann dabei, Frau Göring-Eckardt und Frau Roth, Herr Trittin, Herr Özdemir; bei uns Frau Merkel, Herr Seehofer, Herr Kauder, Herr Bouffier, Herr Tillich, Frau Hasselfeldt und ich. Wir waren uns in der Union einig: Wir hätten eine Koalition mit den Grünen gemacht. Aber die Grünen wollten nicht. Es lag also nicht an der Union, es lag vor vier Jahren auch nicht an Horst Seehofer. Und die SPD wäre damals ja lieber in die Opposition gegangen. Sie wusste schon damals natürlich: In einer Koalition mit der Kanzlerin kann sie parteipolitisch nicht richtig gewinnen.

Beim Beruf des Politikers geht es ja nicht nur um Macht. Es geht um Gestaltung, Wegweisung und Zukunft, vielleicht um Visionen. Was ist für Sie am politischen Amt so reizvoll?
Schäuble: Es geht mir darum, das Zusammenleben von Menschen zu organisieren, zu verbessern. Es gibt Menschen, die machen das gern. Wenn Sie sich die Biographien von Bundestagsabgeordneten anschauen: Die Mehrzahl war schon in der Schule Klassensprecher. Ich auch.

Nun muss der Politiker seine Vorstellungen spätestens bei einer Wahl mit denen der Wähler abgleichen lassen. Wir erleben ja einen Prozess, in dem immer ausgeprägter wird, dass die Politik »dem Volk« folgt – siehe AfD. Wie gehen Sie damit um, dass Sie womöglich anderes wollen als Ihre Wähler?
Schäuble: Mich beschäftigt immer, was meine Wähler wollen. Gleichzeitig kämpfe ich für meine Überzeugungen. Man muss in der Demokratie akzeptieren, dass die Mehrheit entscheidet. Das ist eine Grundvoraussetzung, auch wenn es einem nicht immer leicht fällt. Weil natürlich jeder denkt: Ich weiß doch, wie es richtig ist. Man muss das akzeptieren.

Ist das ein Plädoyer für den Kompromiss?
Schäuble: In einer pluralen Gesellschaft muss man Lösungen finden, für die es Mehrheiten gibt. Das ist ja das Prinzip von Volksparteien, die zur Mitte hin integrieren. Politik bedeutet, die richtige Balance zu finden, zu verstehen, was die Menschen denken, was sie empfinden und darauf Antworten zu geben. Natürlich sollen die gewählten Abgeordneten auch ein Stück weit Orientierung geben.

Die Koalition aus Union und SPD hat in den letzten Wochen nicht immer eine gute Figur gemacht. Aber auch die Schwesterparteien CDU und CSU kommen mitunter nicht mehr zusammen. Ich denke etwa an Horst Seehofer, der nach der Erklärung der Kanzlerin, noch einmal zu kandidieren, eher brüsk reagiert hat. Steht das nicht für eine Verschlechterung der Beziehung zwischen CDU und CSU?
Schäuble: Was unsere Beziehung zur SPD betrifft, ist das in Ordnung so. Zumindest in den letzten drei Jahren haben wir im Wesentlichen ordentlich zusammen regiert. Jetzt geht’s auf den Wahlkampf zu, da werden wir Konkurrenten.

Und wie steht es um die Union?
Schäuble: Das ist komplizierter. Die CSU mit ihrer Sonderrolle als bayerische Partei ist im Freistaat außerordentlich erfolgreich. Man muss zugeben: Die Bayern sind gut. Wir Baden-Württemberger sind übrigens fast genauso gut. Doch die Bayern haben diese Sonderrolle immer genutzt: Schon bei der Bismarck’schen Reichsgründung haben die Bayern gewisse Sonderrechte für sich verhandelt. Wenn das alle machen würden, würde es natürlich nicht mehr funktionieren.

Doch heute schießt die CSU in Richtung CDU – etwa in der Flüchtlingsfrage.
Schäuble: Auf die starke Zuwanderung von Flüchtlingen waren wir nicht wirklich vorbereitet. Wir haben ein Spannungsverhältnis erlebt: Auf der einen Seite die Einstellung: Wir müssen diesen armen Menschen doch helfen. Das haben wir auch vorbildlich gemacht,…

Da schaut ja auch die Welt anerkennend auf Deutschland.
Schäuble: … in Jahrzehnten noch wird das als ein großer Erfolg gewürdigt werden. Auf der anderen Seite gibt es die Einstellung: Das ist zu viel, das geht nicht. Sogar der Papst hat irgendwann gesagt: Wahr ist auch, es muss irgendwo eine Grenze geben. Wir haben lange gebraucht, um das zu realisieren. Der jetzige scheinbare Streit um die Flüchtlingspolitik geht ja nicht zwischen CDU und CSU, es gibt auch viele CDU-Mitglieder, die hier nahe bei der CSU sind.

Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der CSU. Doch das Problem ist ja längst nicht mehr so gravierend: Das Türkei-Abkommen funktioniert, die Balkanrouten sind dicht, und die CSU tut so, als gäbe es das nicht.
Schäuble: Inzwischen wird ja seitens der CSU sehr viel freundlicher und entspannter argumentiert.

Also gehen Sie hoffnungsvoll in die kommenden Monate?
Schäuble: Ich habe immer eine Mischung aus Hoffnung und Gelassenheit.

Lassen Sie uns mal gelassen auf die AfD schauen. Nach allen Umfragen wird diese Partei nächsten Herbst in den Bundestag einziehen.
Schäuble: Wenn die Situation so bleibt wie heute, wird das wohl so. Ich hoffe aber, dass dies in einem Jahr anders ist.

Wie sehr besorgt Sie das Erstarken der AfD?
Schäuble: Das besorgt mich sehr. Und es macht mich auch traurig, denn wir sehen manches, was wirklich abstoßend ist. Ich weiß, dass viele Menschen, die AfD wählen oder sich überlegen, AfD zu wählen, Sorgen haben. Deswegen ist es auch Quatsch, jedem, der AfD wählt, zu sagen, er sei ein Nazi. Wir müssen hier Lösungen anbieten, für die Menschen, die von Politik enttäuscht sind. Aber gleichzeitig dürfen wir nicht die Augen zumachen. Nehmen Sie den Landesparteitag der AfD in Kehl, bei dem die Presse nicht zugelassen war. Mein Verständnis von Demokratie akzeptiert nicht, dass eine Partei, die Demokratie mitgestalten will, ihren Parteitag unter Ausschluss der Öffentlichkeit macht. Dass die AfD argumentiert, es würden da Dinge geredet, die besser nicht nach draußen gelangen, sagt eigentlich alles. Die haben in ihren Reihen alles. Wenn man die Auseinandersetzungen in den AFD-Landtagsfraktionen anschaut, bis hin zur Frage des Holocaust, dann macht mich das traurig. Ich hatte immer gedacht, so etwas würden wir in Deutschland nicht mehr erleben, weil wir ja gesehen haben, wo das hinführt. Die Annahme, an unseren Problemen seien irgendwelche Minderheiten schuld – ob das Sinti und Roma, Juden oder Muslime sind –, ist irrig. Minderheiten zu Sündenböcken zu machen, zieht sich mit fatalen Folgen durch die Geschichte. Ich habe gedacht, das passiert uns nicht mehr.

Sehen Sie die AfD als eine Gefahr für die Demokratie an? Oder halten wir das aus?
Schäuble: Diese Demokratie hält viel aus. Aber wir müssen den Menschen sagen: Lauft solchen Leuten, die keine Lösungen anbieten, nicht hinterher. Sie müssen auch sehen, wie in der Partei manipuliert wird. Da fälscht die Vorsitzende in Sachsen schlicht und einfach die Ergebnisse, wer gewählt ist und wer nicht. Das hat mit Demokratie wenig zu tun.

Sie werden in Ihrem Wahlkreis im Wahlkampf auch mit einem stramm rechts-nationalen AfD-Kandidaten konfrontiert sein. Wie werden Sie mit dem umgehen?
Schäuble: Ich werde hohlen Phrasen konkrete Lösungsvorschläge entgegensetzen.

Wie beurteilen Sie eigentlich die innere Sicherheit und die Stabilität Deutschlands?
Schäuble: Die innere Stabilität ist nach allen Indikatoren, hoch. Die große Mehrheit der Menschen fühlt sich sicher. Die Gefahr von Terroranschlägen ist zwar gegeben, aber die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist sehr viel geringer, als dass man Opfer eines häuslichen Unfalls wird.

Innere Stabilität hat ja auch mit wirtschaftlicher Stabilität zu tun. Sie haben gerade den vierten Etat in Folge ohne neue Schulden vorgelegt. Gleichwohl gibt es Risiken für die Zukunft. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen? Schäuble: Wir sind eine alternde Gesellschaft, es werden also künftig weniger Menschen im Erwerbsalter stehen. Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen werden eher geringer ausfallen. Darauf müssen wir achten. Die Anforderungen an Rente, Gesundheits- und Pflegeabsicherung steigen. Natürlich lassen sich nicht alle Wünsche erfüllen, aber wir tun das Mögliche, um die Menschen vor sozialen Notlagen zu schützen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit darf dabei natürlich nicht verlorengehen. Wir stehen im Wettbewerb und da stellt sich die Frage: Sind wir schnell genug?

Und Ihre Antwort?
Schäuble: Wohlstandsgesellschaften haben ein hohes Maß an rechtsstaatlicher Überprüfung von Entscheidungen. Deswegen sind wir in der Umsetzung von Investitionen nicht immer so zügig, wie wir uns das wünschen. Schauen Sie nur, wir lange der Bau der Güterzugleise an der Rheintalstrecke dauert. Die Chinesen sind da viel flotter. Da ist die Sorge berechtigt, ob wir Schritt halten können. Wir dürfen uns auf dem, was wir erreicht haben, nicht ausruhen.

Was passiert denn, wenn etwa die deutsche Wirtschaft schwächelt oder die EZB ihre Zinspolitik ändert und damit der Schuldendienst teurer wird?
Schäuble: Wenn die EZB ihre Zinspolitik ändert – und ich hoffe, dass sie sie in absehbarer Zeit ändern kann –, dann wird sie es sehr vorsichtig tun. Dann steigen die Anforderungen an den Haushalt, aber das passiert ja nicht über Nacht. Unser Anleihen laufen im Schnitt über sechs Jahre, also verändern sich die Zinsausgaben nur allmählich. Das können wir beherrschen. Ich höre manchmal von Ökonomen: Ihr könnt ja jetzt neue Schulden machen, das Geld ist doch so billig. Aber wenn das Geld nicht mehr so billig ist, dann habe ich die Schulden doch immer noch. Deshalb ist und bleibt es richtig, dass wir Vorsorge treffen mit einer vernünftigen Haushaltspolitik.

Apropos Schulden: Der Bund ist mit 1,7 Billionen Euro verschuldet. Kann man davon jemals runterkommen?
Schäuble: Auf Null muss man gar nicht. Das Entscheidende ist das Verhältnis von Schulden zur wirtschaftlichen Leistungskraft. Nach europäischen Vorgaben dürfen wir nicht mehr als 60 Prozent Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt haben. Jetzt sind wir bei 70, aber ich habe das Amt angefangen mit 80 Prozent. Wir werden in einigen Jahren bei 60 Prozent sein, damit können wir gut leben.

Sind Sie in Sorge wegen des Brexit?
Schäuble: Ich bedauere die Entscheidung der Briten sehr. Der Brexit schwächt Europa, denn mit Großbritannien ist Europa stärker als ohne. Im Augenblick sind die Briten dabei zu überlegen, was sie eigentlich wollen. Aber das müssen sie selber wissen. Wenn sie aber weiter Zugang zum Binnenmarkt haben wollen, müssen sie unsere Bedingungen akzeptieren. Es gibt kein Menü, aus dem man auswählen kann.

Europa kränkelt insgesamt: Die Briten verlassen die Union, Ungarn und Polen besinnen sich auf das Nationale, in Frankreich und den Niederladen sind rechtspopulistische Parteien stark. Wo führt das hin?
Schäuble: Es gibt auch gute Nachrichten aus Europa. Europa steht für einen unglaublichen Erfolg. Wir haben die deutsche Teilung überwunden. Wir waren dann so attraktiv, dass die Sowjetunion darüber zerfallen ist. Aber wir haben die Herausforderung, diese ganz unterschiedlichen Teile zusammenzufügen. Dabei kommen wir doch gut voran. Das Modell ist jetzt ein bisschen müde, es ist unter Druck, Zweifel wachsen, demagogische Bewegungen erstarken. Europa muss effizienter werden. Das ändert aber nichts daran, dass wir Europa brauchen – heute mehr denn je. Das Flüchtlingsproblem kann kein europäisches Land allein lösen. Sicherheit kann auch kein Land allein, zumal wir nicht nur auf den amerikanischen Schutz vertrauen dürfen – übrigens gilt das nicht erst seit der letzten Wahl. Auch müssen wir die gemeinsame Währung verteidigen. Allerdings müssen die Regeln, die wir uns gegeben haben, auch befolgt werden. Darauf können wir nicht verzichten.
Sie waren 1990 als Innenminister Verhandlungsführer zur Ausformulierung des Einheitsvertrages. Das war ja bestimmt ein Highlight in Ihrem Leben. Welches Bild kommt Ihnen am ehesten in den Kopf, wenn Sie daran zurückdenken?
Schäuble: Das Staunen, dass die Wiedervereinigung überhaupt möglich wurde. Dieses Gefühl, dass Mauer, Stacheldraht und Eiserner Vorhang weg sind. Es schien doch völlig einst unvorstellbar, dass wir den Fall der Mauer, die Botschaft in Prag, die ganze Entwicklung im Sommer 1989 erleben durften – und ohne einen einzigen Tropfen Blut. Was für ein Glück ist uns da widerfahren.

Haben Sie Tagebuch geführt damals?
Schäuble: Nein, leider nicht. Ich bin kein Tagebuchschreiber. Aber als ich hinterher im Krankenhaus lag, hatte ich ja Zeit, ein Buch zu schreiben.

1990 war ja auch das Attentat auf Sie. Das war eine ganz schlimme Zäsur in Ihrem Leben.
Schäuble: Es ist interessant, wie sehr im Leben himmelhoch jauchzend und tief betrübt zusammenliegen. Am 3. Oktober war die Einheit vollzogen, und neun Tage später lag ich auf der Intensivstation. So schnell geht’s.

Die vorletzte Frage, Herr Schäuble: Bei der letzten Wahl haben Sie 56,1 Prozent der Erststimmen geholt. Ist das auch Ihre Marke für den Herbst 2017?
Schäuble: Die Zahl der Stimmen, die man erhält, hängt doch in einem starken Maß von der allgemeinen Entwicklung der Parteien ab. 2013 hatte die CDU/CSU insgesamt ein sehr gutes Ergebnis, wir waren ja knapp an der absoluten Mehrheit vorbeigeschrammt. Ich habe einmal ein extrem hohes Ergebnis bei den Erststimmen bekommen, das war 1990 nach dem Attentat: über 66 Prozent. Vier Jahre später hat es dann Ihre Zeitung fertiggebracht zu schreiben, ich hätte einen starken Rückgang der Erststimmen gehabt. Also: Für 2017 habe ich keine Marke, aber ich würde mich freuen, wenn die Wähler mir wieder ihre Stimme geben.

Allerletzte Frage: Wird Ihre Frau Sie wählen?
Schäuble: Davon gehe ich aus. Wir respektieren zwar das Wahlgeheimnis, aber ich bin doch guter Hoffnung, dass sie mich wählt. Sie hat mir übrigens die Entscheidung, erneut zu kandieren, überlassen. Sie hat gesagt: Du musst selbst wissen, was du kannst und was du willst.

Autor:
Andreas Richter