„Mir ist nicht bange“



Ein Gespräch mit Wolfgang Schäuble
Westfälische Nachrichten Münster-Stadt, 27.04.2019

Angesichts der Tatsache, dass viele möglichst viel Spaß als Lebensziel sehen, verdient „Fridays for Future“ und damit das starke Interesse von Kindern und Jugendlichen am Klimaschutz besonderes Lob, oder?

Schäuble: Ja, ganz gewiss. Es ist nur zu begrüßen, dass sich junge Menschen für zentrale und globale politische Fragen interessieren – und es ist traurig, dass die Politik offenbar diesen Druck braucht, um beim Klimaschutz die vielen Widerstände zu überwinden. Übrigens: Auch das ist an unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit positiv: Sehr viele Menschen jeden Alters haben ein hohes Maß an Sensibilität für die Nöte anderer. Der Umgang mit benachteiligten Menschen ist gerade in der jungen Generation oft eindrucksvoll. Inklusion ist nicht nur ein hohes Prinzip, sondern wird in vielen Schulklassen sehr konkret gelebt.

Umstritten ist, dass wegen „Fridays for Future“ die Schulpflicht verletzt wird. Lässt die Politik die Lehrer bei diesem Problem im Stich?

Schäuble: Nach meinem Eindruck haben die meisten Lehrer sehr klug reagiert. Sie haben aus den Freitags-Demonstrationen und dem Fernbleiben der Schüler vom Unterricht keine Grundsatzfrage gemacht oder sogar mit Disziplinarverfahren gedroht. Es war klug, dass die meisten Pädagogen sich zurückhielten und den Unterrichtsstoff nachholen. Denn Dramatik hilft hier gar nichts. Aber auf Dauer kann der Freitag nicht zum Demo-Tag werden. Es sei denn, dass die Schüler freitags auf die Straße und samstags dann zur Schule gehen. (er lacht)

Der Tabubruch gehört zu ­“Fridays for Future“ . . .

Schäuble: Ja, stimmt. Aber wenn der Tabubruch zur Regel wird, erschöpft sich der Effekt auch. In ein paar Wochen wird sich da ein Modus finden. Mir wäre wichtiger, dass die Politik beim Klimaschutz jetzt schnell entscheidet. Wissenschaftler haben dargelegt, dass wir den Verbrauch fossiler Energien teurer machen müssen. Ob dies durch ständig steigende Zertifikatspreise geschieht, lässt die Kanzlerin gerade prüfen.

Was halten Sie von einer CO²-Steuer, die den Preis kohlenstoffhaltiger Produkte erhöht und damit zu weniger Emissionen anreizt?

Schäuble: Ob man Zertifikate verteuert oder eine Steuer erhebt: Das geht in dieselbe Richtung und sollte von den verantwortlichen Politikern geprüft werden. Nur eines muss ­gewährleistet sein: Schnelle Entscheidungen müssen her. Zehn Jahre weiterer Diskussionen können wir uns nicht leisten. Europa sollte hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Wenn die „Fridays for Future“-Demonstrationen dazu beitragen, dass die Entscheidungen zum Klimaschutz vorankommen, dann zeigt dies: Unsere Demokratie funktioniert.

Anderes Thema: Die bevorstehende Europawahl weckt bisher nicht gekannte Aufmerksamkeit. Wem nützt es, Versöhnern oder Spaltern?

Schäuble: Das starke Interesse ist sehr gut. Wer profitiert, ist offen. Der frühere US-Präsident Barack Obama hat bei seinem Abschied gewarnt, dass die größte Gefahr für die Demokratie sei, dass wir sie für selbstverständlich halten. Ja, wir sollten uns auch beim Thema Europa klar sein: Nichts ist sicher, wenn man es nicht wertschätzt, nicht die Freiheit, nicht die Demokratie. Ich hoffe, dass dies den Menschen bewusst ist und dass sie dann am 26. Mai auch wirklich wählen gehen.

Die Europawahl muss ein Fanal gegen Nationalismus und gegen Rassismus werden – so wird allenthalben gefordert. Ein frommer Wunsch, aus blanker Angst geboren?

Schäuble: Das Thema Rassismus muss man sehr ernst nehmen. Ja, es gibt noch immer Verstöße und antisemitische Ausfälle, die konsequent geahndet werden müssen. Aber ­gemessen an früheren Zeiten sind die Deutschen vernünftiger geworden. Die meisten achten das Grundgesetz, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist.

Der Brexit und der Ärger mit den unschlüssigen Briten hält die übrigen 27 Mitglieder der EU derzeit fest zusammen – werten Sie das als ein gutes Zeichen?

Schäuble: Na klar! Auch hier ist zu sehen: Sobald etwas nicht mehr selbstverständlich ist, wird es wertvoll. Die Rest-Europäer rücken zusammen – nach dem Motto: Wir werden die Errungenschaften unserer EU verteidigen, das müssen auch die Briten wissen. Deren Parlamentarier haben es in der Hand. Sie können unmittelbar vor der Europawahl einem geordneten Brexit zustimmen. Dann wäre allen geholfen.

Besteht die Gefahr, dass die EU und auch Deutschland wegen der anhaltenden Brexit-Debatten andere, sehr wichtige Fragen aus den Augen verlieren – zum Beispiel die wachsende Übermacht Chinas?

Schäuble: Die Gefahr sehe ich nicht. China hat eine große Bedeutung und Anspruch auf Respekt. Wir hoffen sehr, dass die aktuelle Rivalität zwischen China und den USA nicht außer Kontrolle gerät. Das würde die weltweite Stabilität gefährden. Derzeit sieht es nicht danach aus. Es muss aber klar sein: Es liegt an uns Europäern selbst, ob wir durch Chinas Aktivitäten fremdbestimmt werden wollen. Wir müssen uns wehren können. Nur Einigkeit macht handlungsfähig, das gilt auch für unser Verhältnis zu Russland. Wir haben ein massives Interesse an konstruktiver und enger Zusammenarbeit mit Russland. Das kann aber nicht heißen, dass wir schweigen, wenn die Regierung in Moskau mit der Androhung militärischer Mittel die Krim besetzt, und dass wir die russische Propaganda hinnehmen.

Blick in den Bundestag: Seit dem Einzug der AfD geht es deutlich aggressiver zu. Nach der Ablehnung mittlerweile dreier AfD-Kandidaten für das Bundestagspräsidium will die „Alternative“ den Politik-Betrieb weiter erschweren

Schäuble: Von solchen Drohungen sollten wir uns nicht beeindrucken lassen. Zur gescheiterten Besetzung des Vize­präsidenten-Postens ist anzumerken: Eine Vizepräsidentin oder ein Vizepräsident muss die Parlamentssitzung unparteiisch leiten. Das ist wie beim Schiedsrichter im Sport, hier geht es um Vertrauen. Und wenn dieses Vertrauen bei den an­deren Abgeordneten fehlt, dann scheitern Kandidaten.

Zum Schluss: Die Wirtschaftskraft nimmt ab. Was bedeutet das für die Stabilität dieser Bundesregierung, die manche Differenz – etwa bei der Rente – mit teuren Projekten ausglich?

Schäuble: Als Bundestagspräsident kommentiere ich das nicht – aber als früherer Finanzminister erinnere ich daran, dass ich 2010 von meinen Vorgängern einen Etatentwurf mit einer Neuverschuldung übernahm, die mehr als ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts ausmachte. Dies habe ich kontinuierlich abgebaut. Jetzt haben wir eine Abschwächung der Konjunktur, die auch auf Problemen des Welthandels basiert. Angesichts der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt, der stabilen Ertragslage großer und kleiner Unternehmen sowie komfortabler Lohnerhöhungen und Preisstabilität ist mir aber um die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands nicht bange.

Sie haben den Wirtschaftsjuristen und einstigen Unions-Fraktionschef Friedrich Merz als CDU-Chef oder auch Minister haben wollen. Können Sie sich vorstellen, dass er ins Kabinett aufrückt?

Schäuble: Ich habe in dem parteiinternen Wahlkampf um die CDU-Führung, den ich sehr gelungen fand, meine persönliche Präferenz für Friedrich Merz klar­gemacht. Diese Debatte ist mit der Entscheidung des CDU-Bundesparteitags, Annegret Kramp-Karrenbauer zur Parteivorsitzenden zu wählen, aber beendet. Und das ist gut so.

Länger als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat noch nie ein Abgeordneter in einem deutschen Parlament auf nationaler Ebene gesessen: 47 Jahre.Was hält der 76-Jährige von den Demonstrationen von Kindern und Jugendlichen für den Klimaschutz? Wie denkt er über den Brexit? Wie bewertet der CDU-Politiker den Einsatz für benachteiligte Menschen?

Beate Tenfelde