Interview: „Mir ist um Berlin nicht bange“



Interview in der Berliner Morgenpost vom 19.06.2016

Von Christine Richter und Gilbert Schomaker

Auch wegen seiner Rede zum Hauptstadtbeschluss wird Finanzminister Schäuble Ehrenbürger von Berlin. Ein Gespräch über damals und heute.

Der Senat hat es beschlossen: Wolfgang Schäuble (CDU), Bundesfinanzminister, soll Ehrenbürger von Berlin werden. Man wolle damit seine „herausragende Lebensleistung“ würdigen, so der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) zur Begründung. Die Stadt Berlin habe Schäuble viel zu verdanken, so Müller.

Alle Parteien im Abgeordnetenhaus unterstützen den Vorschlag, obwohl es eher ungewöhnlich ist, einen aktiven Politiker auf diese Weise zu ehren.

Ein Gespräch mit Wolfgang Schäuble über die Auszeichnung, den 25. Jahrestag des Hauptstadtbeschlusses, die historische Debatte im Bundestag am 20. Juni 1991 und die Entwicklung Berlins.

Der Berliner Senat möchte Sie zum Ehrenbürger der Stadt ernennen – unter anderem wegen Ihres Einsatzes für Berlin als Hauptstadt. Was sagen Sie zu dieser Auszeichnung?

Wolfgang Schäuble: Ich freue mich und fühle mich sehr geehrt. Berlin ist eine faszinierende Stadt: Ich bin gerne Berliner.

Vor 25 Jahren, am 20. Juni 1991, stimmte der Deutsche Bundestag für Berlin als Hauptstadt. Viele sagen, Ihrer Rede im Bundestag ist es zu verdanken, dass der Beschluss so gefallen ist. Stimmen Sie der Analyse zu?

Sie müssten die damaligen Abgeordneten befragen, warum sie für Berlin gestimmt haben. Atmosphärisch hat mein Beitrag sicher auch ein wenig dazu beigetragen.

>> Wie der Umzug Bonn und Berlin veränderte

Kurz vor der Abstimmung gab es ja Umfragen, die damals eine klare Mehrheit für Bonn als Hauptstadt sahen. Nach der mehrstündigen und teilweise auch sehr emotionalen Debatte am 20. Juni lautete das Ergebnis dann 338 zu 320 Stimmen für Berlin. Hat Sie das überrascht?

Eigentlich hat mich überrascht, dass eine Mehrheit für Berlin so schwierig war. Es war bekannt, dass es auch in der CDU/CSU-Fraktion große Sympathie für Bonn gab. In der Bundesregierung sah es anders aus: Dort war die Mehrheit für Berlin. Aber das eigentlich Bemerkenswerte damals war, dass sich von den 16 Ministerpräsidenten alle – mit Ausnahme des Regierenden Bürgermeisters von Berlin – für Bonn ausgesprochen hatten. Das konnte ich zuerst gar nicht fassen. In den Parteien war die Stimmung ambivalent. Der erste größere Landesverband einer Partei, der sich dann für Berlin als Hauptstadt ausgesprochen hat, war die CDU Baden-Württemberg. Den Landesparteitag werde ich nicht vergessen. Es war mein erster Auftritt im Rollstuhl. Die Südwest-CDU hat sich dann als erster und lange Zeit einziger Landesverband für Berlin ausgesprochen, obwohl damals der gerade aus dem Amt geschiedene Ministerpräsident Lothar Späth wie auch sein Nachfolger Erwin Teufel für Bonn waren.

Die Debatte im Bundestag dauerte damals mehr als zwölf Stunden. Waren Sie nach Ihrer Rede im Bundestag denn zuversichtlich, dass es für Berlin ausgeht?

Im Bundestag wusste niemand genau, wie es ausgehen würde. Als ich nach der Rede zurück zu meinem Platz kam, habe ich zu Justizminister Klaus Kinkel (FDP) gesagt: „Jetzt müssten wir abstimmen, dann hätten wir die Mehrheit.“ Klaus Kinkel war auch für Berlin. Willy Brandt hat mir dann noch für die Rede gedankt. Es war also eine Atmosphäre, in der man hoffte, es würde reichen…

Hatten Sie eine Erklärung, warum nach dem Fall der Mauer, nach der deutschen Wiedervereinigung alle Ministerpräsidenten so gegen Berlin als Hauptstadt, also als Sitz von Bundesregierung und Parlament waren?

Dass der nordrhein-westfälische Ministerpräsident für Bonn als Hauptstadt war, kann man noch verstehen. Dass Rheinland-Pfalz für Bonn war, kann man, muss man aber nicht verstehen. Bei den anderen Ministerpräsidenten hat mich der Widerstand gegen Berlin schon sehr überrascht. Gerhard Schröder war damals Ministerpräsident in Niedersachsen, das ja auch Zonenrandgebiet war, und auch er war für Bonn. Oder ich erinnere mich an den Hamburger Bürgermeister, der auf meine Frage, er sei doch für Berlin, antwortete: „Nein. Hamburg ist die zweitgrößte deutsche Stadt. Es ist nicht in Hamburgs Interesse, dass Berlin, die größte deutsche Stadt, Hauptstadt wird.“ So hatte jeder sein Argument. Ich habe stets darauf hingewiesen, dass Bonn nur stellvertretend für Berlin Hauptstadt ist, solange Deutschland geteilt ist. Und Bonn ist ja auch nichts vorzuwerfen; es hat sich in der Zeit der Teilung seine Verdienste erworben.

War es denn auch für die Wiedervereinigung, für das Zusammenwachsen von West- und Ostdeutschland wichtig, dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland wird?

Willy Brandt hat noch Anfang 1989 gesagt, es sei die „Lebenslüge“ der Deutschen, an die Einheit zu glauben. Das ist kein Vorwurf, so haben es damals viele gesehen. Es ist dann glücklicherweise anders gekommen. Für mich persönlich war immer klar, dass mit der Einheit auch Berlin die Hauptstadt werden muss. Wiedervereinigung bedeutet für mich nicht, dass die neuen Länder nur dazu kommen, sondern auch, dass etwas Neues entsteht. Das ist dann später ja auch deutlich geworden. Die Entscheidung für Berlin wird heute auch von den damaligen Gegnern akzeptiert. Berlin ist die deutsche Hauptstadt – und eine der attraktivsten Städte der Welt. Stellen Sie sich vor: Wenn man junge Israelis fragt, wo sie am liebsten hinreisen, nennen sie Berlin. Wem das nicht als ein Geschenk der Geschichte erscheint, dem kann man auch nicht helfen.

Hätten wir eine andere Republik, wenn es nicht Berlin geworden wäre?

Das weiß ich nicht. Niemand hat einen Grund, sich über Bonn zu beklagen. Aber es wäre auch im Ausland nicht verstanden worden, wenn Bonn im vereinten Deutschland Hauptstadt geblieben wäre. Aber das ist alles Geschichte: Wir haben unter schwierigen Bedingungen eine Entscheidung für Berlin als Hauptstadt getroffen, die sich als glücklich herausgestellt hat. Also können wir heute, 25 Jahre später, feiern.

Einen Blick zurück müssen wir noch werfen. Es hat bis 1994 gedauert, bis der Bundestag das Berlin-Bonn-Gesetz beschlossen hat. Die Widerstände waren groß, der Bonner Oberbürgermeister Hans Daniels hat behauptet, der Umzug werde 200 Milliarden Euro kosten, es wurde Zeit geschunden, um den Umzug nach Berlin hinauszuzögern. Haben Sie mit so großen Widerständen gerechnet?

Da die Entscheidung so umstritten war, war mit Widerstand zu rechnen. Außerdem wollten die Bundestagsabgeordneten und viele in der Regierung in Berlin nicht den Status quo minus, sondern den Status quo plus. Das galt für den Reichstag und auch für die künftigen Ministerien. Aber das gehört zu solchen Entscheidungen dazu. Ich war ja dann Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion und habe die Abgeordneten auch schon drängen müssen – sodass manche gesagt haben, ich sei ein „verkappter Ossi“… (lacht)

Die damals ausgehandelten Kompromisse zwischen Bonn und Berlin haben bis heute Auswirkungen auf die Regierungsarbeit. Müsste nicht die gesamte Regierung mit all ihren Ministerien endlich nach Berlin kommen?

Mit allem Respekt, es gibt keine Auswirkungen. Die Qualität der Regierungsarbeit wird von vielen Faktoren beeinflusst, aber nicht von der Frage, wer noch in Bonn arbeitet. Wir, also das Bundesfinanzministerium, haben Abteilungen nach Berlin geholt und uns neu organisiert, andere Ministerien haben es ähnlich gemacht. Die Verträge mit Bonn sind geschlossen, die müssen auch eingehalten werden. Wenn der Bundestag das ändern will, muss er es tun. Ich halte mich aus der Debatte heraus: Ich habe meinen Beitrag zur Hauptstadt-Debatte geleistet.

Bonn wurde zur Bundesstadt erklärt, finanziell unterstützt, Verbände und auch UN-Organisationen wurden dort angesiedelt. Bonn geht es also auch ohne die Hauptstadtfunktion ganz gut…

Bonn hat nicht gelitten, Bonn hat sich sehr verändert. Es sind mehr Arbeitsplätze von Berlin nach Bonn gewandert als umgekehrt. Bonn ist der Sitz von zwei großen Dax-Gesellschaften – und wir haben zahlreiche Organisationen an den Rhein verlegt. Es gibt für die Bonner keinen Grund zu jammern. Und das tun sie ja auch nicht.

Und wie sehen Sie die Zukunft für Berlin?

Berlin muss jetzt seine Aufgaben erfüllen und kann nicht mehr ablenken von dem, was noch nicht hundertprozentig funktioniert. In der Überwindung der Teilung muss die Stadt ein Stück weit Führungsverantwortung übernehmen. Berlin kann so viel erreichen – mit Selbstbewusstsein und weniger mit Forderungen an andere.

Was heißt das konkret? Was muss Berlin, was muss der Berliner Senat Ihrer Meinung nach machen?

Ach, in Berlin sind bald Wahlen. Ich werde mich mit Ratschlägen völlig zurückhalten. Berlin hat viele Möglichkeiten. Ich weiß schon, dass Berlin wirtschaftlich noch immer die Folgen von Krieg und Teilung spürt. Die Industrieunternehmen haben die Stadt verlassen, und die bekommt man in der globalisierten Welt auch nicht mehr zurück. Andererseits hat Berlin eine unglaublich lebendige Gründerkultur. In Berlin wird mehr Start-up-Kapital generiert als in irgendeiner anderen europäischen Stadt.

Was ist Ihr persönlicher Wunsch an Berlin, an die Hauptstadt?

Ich wünsche mir, dass Berlin aus dem Glück, dass die Teilung überwunden wurde, und aus den vielen Veränderungen, die die Stadt zu einer lebendigen und faszinierenden Metropole gemacht haben, die Kraft schöpft, seiner gesellschaftlichen Führungsrolle gerecht zu werden. Aber wissen Sie: Mir ist um Berlin nicht bange.