„Europa muss die Krise nutzen“



Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.08.2020

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble über die Corona-Pandemie, seine Rolle in der Schuldenkrise und die Gefahren eines neuen Lockdowns

Herr Schäuble, Europa nimmt zum ersten Mal gemeinsame Schulden auf. Der Vizekanzler Olaf Scholz sieht darin einen Fortschritt – und einen Dauerzustand. Sie auch?

Ich habe mir immer eine engere Wirtschafts- und Finanzunion gewünscht, das ist kein Geheimnis. Bei der Euro-Einführung war das leider nicht möglich, und zu Beginn der Euro-Krise im Jahr 2010 war mein Versuch, die Probleme durch einen Europäischen Währungsfonds zu lösen, politisch nicht durchsetzbar. Die Herausforderungen, die mit der fürchterlichen Corona-Pandemie einhergehen, bieten dazu jetzt die Gelegenheit. Sie müssen wir nutzen. Deshalb habe ich den Vorstoß der Bundeskanzlerin und des französischen Präsidenten für den europäischen Wiederaufbaufonds sehr begrüßt. Trotzdem finde ich es falsch, jetzt nur über die gemeinsamen Schulden zu reden.

Wenn die EU eigene Schulden aufnimmt, braucht sie dann auch eigene Einnahmen?

Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Anders als die Mehrheit in der Unionsfraktion sage ich: Die Europäische Union braucht eigene Einnahmen.

Bisher wurden dafür nur wenig realistische Vorhaben diskutiert, von einer Börsen- bis zur Digitalsteuer.

Da gibt es Möglichkeiten: Wenn Sie die Einnahmen aus einem vernünftigen CO2-Preis der Europäischen Union zufließen lassen, käme einiges zusammen. Das wäre auch klimapolitisch sinnvoll.

Was muss während der deutschen Ratspräsidentschaft noch geschehen, damit es nicht bloß bei gemeinsamen Schulden bleibt?

Wir sollten die Wirksamkeit einer Ratspräsidentschaft nicht überschätzen. Natürlich hat die Bundesrepublik ein besonderes Gewicht, die Kanzlerin genießt hohes Ansehen. Aber sie sitzt nicht dem Rat der Regierungschefs vor, das macht der ständige Ratspräsident Charles Michel. Es kommt jetzt vor allem auf die EU-Kommission an. Sie muss das Programm richtig umsetzen: nicht nur Geld verteilen, sondern in Projekte investieren, die Europa voranbringen – zum Beispiel im Klimaschutz und bei der Digitalisierung.

Davon ist nach dem jüngsten EU-Gipfel nicht viel übrig geblieben.

Das kann noch kommen. Auf einem solchen Gipfel reden die Regierungschefs immer darüber, wer wie viel bezahlt und wer wie viel herausbekommt. Sogar in Deutschland hatten wir eine solche Debatte. Aber darauf kommt es doch gar nicht an. Die entscheidende Frage lautet: Was hilft Europa insgesamt? Wie sorgen wir dafür, dass die EU in einer weltpolitisch schwierigen Zeit beieinanderbleibt? Die Beschlüsse vom Juli bieten eine Chance – zwar nicht für die ideale Welt, aber für ein stärkeres, innovativeres, zukunftsfähigeres Europa. Winston Churchill sagte: Verschwende niemals eine gute Krise. Ohne den Druck von Krisen ist die Bereitschaft zu Veränderungen zu gering. Jetzt haben wir eine Krise, wie wir sie uns nie vorstellen konnten. Das müssen wir nutzen, um voranzukommen. Wenn diese Krise nicht groß genug ist, um die Integration voranzubringen, welche dann?

Am Ende der Euro-Krise wurden Sie als Politiker wahrgenommen, der das deutsche Geld beisammenhält. Jetzt plädieren Sie fürs Geldausgeben?

Weil die Welt sich verändert hat! Und weil meine Rolle damals falsch wahrgenommen wurde. CDU und CSU haben auf dem Höhepunkt der Euro-Krise in einer Koalition mit der FDP regiert, und ich war so stark an die Beteiligung des nationalen Parlaments gebunden wie kein anderer Finanzminister in Europa. Damit wollten der damalige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder und der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sicherstellen, dass ich in Europa nicht zu großzügig auftrete. Diese Wahrnehmung habe ich auf europäischer Ebene ein wenig vermisst. So läuft nun mal Kommunikation.

Sie fühlten sich missverstanden?

Ich habe auch in der Euro-Krise nie den Kampfbegriff einer Schuldenunion benutzt, und ich habe Eurobonds nie ausgeschlossen. Natürlich wird ein wirtschaftlich vereintes Europa auch gemeinsame Anleihen begeben können. Es geht nur darum, dass man nicht einfach gemeinsame Schulden macht, ohne eine gemeinsame Politik zu haben.

Weshalb dann die Kritik?

Das hing mit der Debatte um die schwarze Null zusammen. Als ich Finanzminister wurde, war der Entwurf des Bundeshaushalts fast zu einem Drittel über Schulden finanziert, als Folge der Bankenkrise 2008. Ich habe dann die Ausgaben jahrelang nicht erhöht. Anfang 2013 haben wir uns ganz bewusst dafür entschieden, das Ziel der schwarzen Null zu formulieren – weil das eine Zielvorgabe war, die keinen Spielraum für Interpretationen lässt. Daraus haben dann manche in Europa ein Feindbild gemacht. Dabei ging es gar nicht um die schwarze Null, sondern um unsere ordnungspolitische Position: Wer Entscheidungen trifft, muss auch für die finanziellen Folgen haften.

Wie kann die Verwendung der Gelder aus dem Wiederaufbaufonds kontrolliert werden?

Wer Finanzhilfen braucht, der muss akzeptieren, dass der Geldgeber einen Blick darauf wirft. Man darf auch nicht die Verantwortung für nötige Reformen auf andere abwälzen. Nehmen Sie Griechenland: Das Land hat in der Euro-Krise unter den früheren Fehlern der eigenen Regierungen gelitten, nicht an Berlin oder Brüssel! Es ist natürlich viel einfacher zu sagen: Das müssen wir wegen der Deutschen machen. Aber man muss den Mut haben, zur eigenen Verantwortung zu stehen. Die Iren haben das getan, die Portugiesen auch, mit sozialistischen wie konservativen Regierungen. Die Medien in Deutschland haben fälschlicherweise geschrieben, dass alle auf den deutschen Finanzminister schimpfen, und damit selbst nationalistische Ressentiments angefacht. Das hilft Europa nicht. Aber wir Deutschen sind auch nicht immer Musterschüler.

Der 750-Milliarden-Fonds wird viel weniger kritisiert als seinerzeit die Euro-Rettung. Wie kommt das?

Man muss den Mut haben, auch gegen Widerstände die richtige Politik zu vertreten. In der Euro-Krise hing es vor allem am Finanzminister. Diesmal hat die Regierung als Ganzes das Programm geschlossen vertreten, die Bundeskanzlerin hat die Entscheidung gut vorbereitet. Dann kann man auch die Bevölkerung überzeugen. Das Bedürfnis nach Führung ist stark ausgeprägt, gerade in unübersichtlichen Fragen. Die Deutschen haben nach den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts den starken Wunsch, in ein leistungsfähiges und solidarisches Europa eingebunden zu sein. Etwas Besseres kann uns nicht passieren.

Läuft das auf ein Europa der zwei Geschwindigkeiten hinaus: Die einen schreiten voran, die anderen folgen?

Die Bereitschaft, Teile der staatlichen Souveränität an Europa abzugeben, ist unterschiedlich ausgeprägt. In Luxemburg ist sie hoch, in Deutschland traditionell auch. Länder, die später dazukamen wie die Osteuropäer, haben eine andere Einstellung. Man kann Europa nur voranbringen, wenn man solche Unterschiede respektiert, und man muss nicht alles vereinheitlichen. Aber der Langsamste darf nicht das Tempo bestimmen. Die Willigen müssen vorangehen, die anderen sind eingeladen mitzumachen.

Halten Sie an Ihrem Wunsch fest, den Kommissionspräsidenten direkt zu wählen?

Änderungen des europäischen Primärrechts sind durch den Lissabon-Vertrag leider fast ausgeschlossen. Das geht nur einstimmig, für die Ratifizierung ist in vielen Staaten eine Zweidrittelmehrheit nötig, bisweilen eine Volksabstimmung. Dabei brauchen wir dringend institutionelle Reformen. Die Wahl des Kommissionspräsidenten in allgemeiner und direkter Wahl würde der Kommission eine viel stärkere Legitimation verleihen und einen gewaltigen Schub für die europäische Integration mit sich bringen.

Arbeitet Angela Merkel in Europa auch an ihrem Vermächtnis?

Die Kanzlerin trifft ihre Entscheidungen immer aus der jeweiligen politischen Situation heraus. Sie arbeitet daran, dass wir in dieser schweren Zeit politisch und wirtschaftlich besser zu Rande kommen. Das ist eine Riesenlast. Natürlich weiß sie: Das gelingt umso mehr, je besser wir Europa stabilisieren können. Und wenn daraus ein gutes Vermächtnis wird, sollten wir uns freuen.

Sie sagten vor einigen Wochen, ein zweiter Corona-Lockdown wäre fürchterlich. Kommt er jetzt, weil die Infektionszahlen wieder steigen?

Das sind schwierige Entscheidungen, wenn man nicht weiß, was der nächste Tag bringt. Bund und Länder haben das bislang alles in allem gut hinbekommen. Einen zweiten Lockdown müssen wir in der Tat vermeiden, wirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich. Wir sollten Lösungen finden, bei denen die Wirtschaft nicht total zurückgefahren wird und auch Kitas und Schulen nicht wieder schließen müssen. Und mit denen wir auf längere Sicht leben können. Ich sehe nicht, dass wir so schnell einen Impfstoff haben, mit dem alles wieder wird wie zuvor.

Wie halten Sie es im Bundestag?

Ich habe den Fraktionen geschrieben und Vorschläge für die Arbeit nach der Sommerpause gemacht. Wir sollten auch im Bundestag immer Masken tragen, wenn der Abstand nicht eingehalten werden kann. Wir hatten im Lockdown schon sichergestellt, dass die Abgeordneten in Berlin präsent sein können. Die Präsenz war dann auch nicht schlechter als vor Corona. Wegen der Abstandsregeln tagen die beiden großen Fraktionen im Plenarsaal, die Säle von Union und SPD stehen wiederum für AfD und FDP zur Verfügung. Ich hatte auch eine Grundgesetzänderung angeregt, damit der Bundestag im Notfall virtuell tagen und Gesetze beschließen kann. Das kam bei den Fraktionen nicht gut an.

Kann staatliches Geld die Folgen der Krise wirklich abpuffern?

Abpuffern schon, aber die Politik darf nicht das Missverständnis aufkommen lassen, dass sie jedes Problem mit Geld lösen kann. Sie muss abwägen, wie die weiteren Hilfen aussehen könnten – und sie muss das so tun, dass nicht der Blick auf die nächste Bundestagswahl alles andere in den Hintergrund drängt. Sicherlich ist es vernünftig, für einige Branchen das Kurzarbeitergeld zu verlängern, aber meines Erachtens müsste man stärker differenzieren. Im Moment entsteht der Eindruck, als gäbe es Geld für alles. Kein Wunder, dass die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst jetzt mit hohen Tarifforderungen kommen, dabei wären viele Menschen froh über einen sicheren Arbeitsplatz wie im öffentlichen Dienst. Klar: Politik hat die Verantwortung, dass keiner ins Bodenlose fällt. Aber auch ein Übermaß an Schulden ist nicht gut, das müssen wir Schritt für Schritt zurückführen – wie damals nach der Finanzkrise.

Bis wann sollten wir zur schwarzen Null zurückkehren?

Ich will die schwarze Null nicht überhöhen. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation. Aber der Grundgedanke der Schuldenbremse bleibt richtig: Wenn es wirtschaftlich gut läuft, hält sich der Staat in seiner Ausgabenpolitik zurück, läuft es nicht so gut, muss der Staat handeln. Man nennt das auch Keynesianismus, nur dass eben beides dazugehört, das Geldausgeben in der Krise genauso wie das Sparen im Boom.

Corona bedroht auch den Parteitag der CDU, der im Dezember die Führungsfrage klären soll. Wäre eine Verschiebung nicht vernünftiger?

Auf keinen Fall! Das Parteienrecht schreibt vor, dass alle zwei Jahre die Führung neu zu wählen ist. Und die Satzung erlaubt es auch nicht, einen solchen Parteitag digital abzuhalten. Die CDU kommt also im Dezember zusammen. Der Parteitag wird kürzer sein als ursprünglich geplant, notfalls beschränken wir uns auf die Wahlen. Die Amerikaner – Demokraten wie Republikaner – haben gerade gezeigt, dass das geht. Weshalb sollte das der CDU Deutschlands nicht gelingen?

Und wer wird Vorsitzender?

Wir haben derzeit drei respektable Kandidaten, einer davon wird gewählt. Vor zwei Jahren waren es auch drei, das hat uns nicht geschadet. Gute Demokraten entscheiden und akzeptieren dann das Ergebnis.

Vor zwei Jahren haben Sie Friedrich Merz unterstützt. Gilt das noch?

Das war 2018, seitdem habe ich mich nicht mehr dazu geäußert.

Als Bundestagspräsident haben Sie immer wieder eine Wahlrechtsreform angemahnt. Der Koalitionsausschuss hat am Dienstag einen Kompromiss gefunden. Sind Sie zufrieden?

Das Ergebnis ist ein klein wenig besser als nichts, aber keine Lösung. Mich schmerzt, dass die Fraktionen keine Reform hinbekommen, die den Namen verdient. Und dass Parteivorsitzende, die nicht mal dem Parlament angehören, dann die Entscheidung verkünden, entspricht auch nicht gerade meinem Verständnis von parlamentarischer Demokratie.

Das Gespräch führten Ralph Bollmann und Frank Pergande.